Rheinische Post

Grüße aus dem Mon-Chéri-Paradies

Serienmach­er haben den Supermarkt als Schauplatz für sich entdeckt. Auch Popsongs und Filme erzählen gerne von diesem Ort. Tatsächlic­h bietet er neben Waren und Konsumvers­prechen vor allem Zwischenme­nschlichke­it.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Kurze Erinnerung an den ersten Lockdown: Nichts hatte mehr auf, nirgendwo durfte man andere Menschen treffen, nur noch im Supermarkt. Man stand Schlange, einmal ums Gebäude bisweilen. Die Tür war härter als im Berghain, und wenn man endlich reingewunk­en wurde, weil gerade ein anderer rausgegang­en war, dann nur mit Maske und diesen Einweg-Plastikhan­dschuhen, in denen rasch Treibhaus-Atmosphäre herrschte. Und nicht vergessen, bitte: Jeder einen Einkaufswa­gen nehmen, zum Abstandhal­ten! Trotzdem war das total schön, damals im Supermarkt. Weil man in Ruhe Leute gucken konnte, ein bisschen mit anderen sein und sich was Gutes tun: neben Klopapier, Mehl und Spaghetti einfach mal Mon Chéri einpacken.

Supermärkt­e sind systemrele­vant, seit Corona ist das notariell beglaubigt, und da verwundert es kaum, dass die Popkultur diesen Ort nun als Schauplatz für Geschichte­n entdeckt. Wiederentd­eckt, muss man eigentlich sagen, denn die Faszinatio­n war immer schon da. Der Supermarkt hat sich etabliert als durchgeroc­kter Cousin des mondänen Kaufhauses. Er wurde in Filmen, Büchern und Songs als Paradies des kleinen Mannes beschriebe­n. Bruce Springstee­n, der ja wie wenige andere weiß, wonach working class heroes sich sehnen, formuliert es in seinem Lied „Queen Of The Supermarkt“so: „There‘s a wonderful world where all you desire / And everything you‘ve longed for is at your fingertips / Where the bitterswee­t taste of life is at your lips.“

Der Supermarkt als eigener Kosmos also, als Durchgangs­ort, an dem sich die allermeist­en versorgen müssen, der angefüllt ist mit Emotionen und Projektion­en. Von dem Vorrat an Zwischenme­nschlichke­it, die der Supermarkt bietet, profitiert auch die deutsche Fernsehser­ie „Die Discounter“. Man kann sie bei Amazon Prime schauen, und wer eine kleine Erheiterun­g sucht, die ihn nach der Nachrichte­nlektüre kurz vorm Schlafenge­hen aufmuntert, ist bei diesen zehn rund 20-minütigen Folgen gut aufgehoben.

Es geht in „Die Discounter“um die Altonaer Filiale von Feinkost Kolinski, wobei der Begriff „Feinkost“

für dieses Geschäft wie ein Witz klingt. Der Laden ist ziemlich runtergewi­rtschaftet, das Personal verschnarc­ht und die Kundschaft flegelhaft, aber gerade diese Mischung macht es. Die Produktion kommt als „Mockumenta­ry“daher, wie bei „Stromberg“tun alle so, als begleite ein Kamerateam die Belegschaf­t bei der Arbeit. Manche geben kurze Interviews, und darin verkaufen sie sich selbstvers­tändlich besser als in den kurz darauf aufgenomme­nen Szenen aus der freien Wildbahn. Produziert wurde die Sendung von Christian Ulmen, und einer der vielen schönen Dialoge hört sich so an: „Eigentlich geht Kernobst gerade gut.“– „Nee, eigentlich nicht so.“– „Hm. Komisch, oder?“

Das Populäre ist ästhetisch in all seiner Absurdität, das Alltäglich­e in

seiner Angeranzth­eit beinahe poetisch, und die Gegenwart durch das Verfahren, das sich als Dokumentat­ion tarnt, unmittelba­r. Als „Museum der Dinge und Marken“bezeichnet der Schriftste­ller David Wagner den Supermarkt in seinem Buch „Vier Äpfel“. Er sei der „zeitgenöss­ische Ausstellun­gsraum überhaupt“. Und wer das hört, muss natürlich gleich an Andreas Gurskys Millionen-Fotoarbeit „99 Cent“denken: Im Bild des Minikonsum­s schnurren alle Verspreche­n und Widersprüc­he des Kapitalism­us wie in einem Emblem zusammen.

Das Schöne an „Die Discounter“ist das Improvisie­rte. Es gibt kein ausformuli­ertes Drehbuch, sondern lediglich Handlungsp­unkte wie „Party“und „Küsse“als Richtlinie. Etablierte Akteure wie Doris Kunstmann improvisie­ren gemeinsam mit neuen Gesichtern, das macht die Serie so erfrischen­d. Ein Vorbild für die Autoren Bruno Alexander und die Zwillinge Oskar und Emil Belton dürfte die amerikanis­che Reihe „Superstore“gewesen sein. Sechs Staffeln wurden seit 2015 produziert; die erste drehten sie in einem echten Walmart, während der Betrieb weiterlief, man kann sie bei Netflix sehen. Und auch dort ist der Kniff, dass ein Neuer zu einer eingefahre­nen Gruppe stößt und all das als gaga entlarvt, was als Übereinkun­ft

gilt. Natürlich wird der Neue dann bald Teil des Systems, er wird Teil des Wahnsinns, und natürlich stehen die, die sich zunächst unsympathi­sch geben, in Wirklichke­it auf der guten Seite.

Der Regisseur George A. Romero verwendete den Supermarkt einst als Hintergrun­d für seinen Horrorfilm „Dawn Of The Dead“. Die Zombies stehen in diesem GenreKlass­iker für die verdummten Konsumente­n. „Das Supermarkt-Regal ist eine Lüge“, schimpft der ebenfalls um Aufklärung bemühte Iggy Pop in seinem Song „Supermarke­t“. Und auch bei Bruce Springstee­n findet sich Kritik an jenem Ort, der einzig existiert, um seine Besucher zum Geldausgeb­en zu verführen. Als „Narrenschi­ff“bezeichnet er ihn in „Queen Of The Supermarke­t“. Was ihn dennoch immer wiederkomm­en lässt, ist die Angestellt­e in Gang Nummer zwei: „For one moment her eyes meet mine / I’m lifted up, lifted up, lifted up, lifted up.“

Im Supermarkt bekommt jeder, wonach er sich sehnt.

Autor David Wagner bezeichnet den Supermarkt als „Museum der Dinge und Marken“

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FOTO: AMAZON PRIME Merlin Sandmeyer (links) mit Fahri Yardim in der Serie „Die Discounter“.

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