Auf Diktaturkurs
Der tunesische Präsident Kais Saied löst das Parlament auf und setzt die Justiz auf Abgeordnete an.
Das Parlamentsgebäude in der tunesischen Hauptstadt Tunis steht seit Monaten leer. Im Juli 2021 suspendierte Präsident Kais Saied die Volksvertreter und die Regierung und riss alle Macht im Staat an sich. Seitdem riegeln Sicherheitskräfte das Parlament ab, um zu verhindern, dass sich die Abgeordneten treffen können. Deshalb kamen die Parlamentarier jetzt per Konferenzschaltung im Internet zusammen und brandmarkten die Machtfülle des Staatschefs als illegal und nichtig. Saied reagierte, indem er das Parlament für vollständig aufgelöst erklärte und den Parlamentspräsidenten wegen Terrorvorwürfen einbestellen ließ. Der Präsident festige seine Diktatur, sagen Experten und Gegner des Staatschefs.
Saied, ein 64-jähriger Verfassungsrechtler, betrachtet sich als Hüter des Staates und Kämpfer gegen Korruption und Amtsmissbrauch. Dabei bricht der vor drei Jahren gewählte Präsident nach Ansicht von Kritikern selbst Gesetz und Verfassung. Einen Dialog mit seinen Gegnern lehnt er ab, Sitzungen des frei gewählten Parlamentes ebenso. Er regiert per Dekret und hat die Kontrolle über die Justiz übernommen.
Tunesien ist die Wiege der Aufstände des Arabischen Frühlings von 2011 und war jahrelang der einzige Staat in der Region, in dem der Übergang von einem autokratischen System zu einer Demokratie einigermaßen funktionierte. Der Machtkampf zwischen Saied und seinen Gegnern hat den einstigen Hoffnungsträger jedoch in eine tiefe Krise gestürzt. Safi Said, ein Gegner von Saied bei der Präsidentschaftswahl von 2019, nennt den Präsidenten einen „neuen Pharao“.
Die Internet-Parlamentssitzung vom Mittwoch war das erste Treffen der Parlamentarier seit der Suspendierung der Volksvertretung durch Saied vor acht Monaten. Zunächst versuchte Saied, die Onlinesitzung mit technischen Mitteln zu verhindern: Er ließ landesweit den Zugang zu den Plattformen Zoom und Microsoft Teams sperren. Die Abgeordneten seien aber auf das System Gotomeeting ausgewichen, berichtete die Nachrichten-Website Middle East Eye.
Trotz der technischen Hürden nahmen 123 der 217 Abgeordneten teil: Damit war das Parlament beschlussfähig. Mit einer Mehrheit von 116 Abgeordneten verabschiedete das Plenum ein Gesetz, das Saieds Sondervollmachten für aufgehoben erklärte. Daraufhin erklärte Saied das Parlament für aufgelöst. Seine Gegner wollten den Staatsstreich, sagte er, und ordnete Ermittlungen gegen die 116 Unterstützer des Gesetzes an. Bei einer Verurteilung wegen Hochverrats droht ihnen die Todesstrafe. Am Freitag wurde Parlamentspräsident Rached el-Ghannouchi von der Antiterrorpolizei zum Verhör einbestellt.
Strittig ist auch, ob der Staatschef die Volksvertretung überhaupt auflösen darf, nachdem er sie zuvor mit der Begründung einer nationalen Krise schon suspendiert hatte. Die Verfassung sieht bei Parlamentsauflösung Neuwahlen innerhalb von drei Monaten vor, doch Saied will erst im Dezember neu wählen lassen. Bis dahin will er den Staat umbauen – und seine eigene Macht unangreifbar machen, wie Kritiker sagen. Die Tunesien-Expertin Monica Marks vom Ableger der Universität New York in Abu Dhabi sieht Saieds Vorgehen als „Konsolidierung der Diktatur“.
Im Sommer hatte Saied bei der Suspendierung von Parlament und Regierung noch viele Tunesier auf seiner Seite, die den Politbetrieb in ihrem Land für die Wirtschaftsprobleme Tunesiens verantwortlich machen. Seitdem bröckelt die Unterstützung für den Präsidenten im In- wie im Ausland. Die USA, ein wichtiger Geldgeber für Tunesien, zeigten sich „tief besorgt“über Saieds Verhalten.