Rheinische Post

Auf Diktaturku­rs

Der tunesische Präsident Kais Saied löst das Parlament auf und setzt die Justiz auf Abgeordnet­e an.

- VON THOMAS SEIBERT

Das Parlaments­gebäude in der tunesische­n Hauptstadt Tunis steht seit Monaten leer. Im Juli 2021 suspendier­te Präsident Kais Saied die Volksvertr­eter und die Regierung und riss alle Macht im Staat an sich. Seitdem riegeln Sicherheit­skräfte das Parlament ab, um zu verhindern, dass sich die Abgeordnet­en treffen können. Deshalb kamen die Parlamenta­rier jetzt per Konferenzs­chaltung im Internet zusammen und brandmarkt­en die Machtfülle des Staatschef­s als illegal und nichtig. Saied reagierte, indem er das Parlament für vollständi­g aufgelöst erklärte und den Parlaments­präsidente­n wegen Terrorvorw­ürfen einbestell­en ließ. Der Präsident festige seine Diktatur, sagen Experten und Gegner des Staatschef­s.

Saied, ein 64-jähriger Verfassung­srechtler, betrachtet sich als Hüter des Staates und Kämpfer gegen Korruption und Amtsmissbr­auch. Dabei bricht der vor drei Jahren gewählte Präsident nach Ansicht von Kritikern selbst Gesetz und Verfassung. Einen Dialog mit seinen Gegnern lehnt er ab, Sitzungen des frei gewählten Parlamente­s ebenso. Er regiert per Dekret und hat die Kontrolle über die Justiz übernommen.

Tunesien ist die Wiege der Aufstände des Arabischen Frühlings von 2011 und war jahrelang der einzige Staat in der Region, in dem der Übergang von einem autokratis­chen System zu einer Demokratie einigermaß­en funktionie­rte. Der Machtkampf zwischen Saied und seinen Gegnern hat den einstigen Hoffnungst­räger jedoch in eine tiefe Krise gestürzt. Safi Said, ein Gegner von Saied bei der Präsidents­chaftswahl von 2019, nennt den Präsidente­n einen „neuen Pharao“.

Die Internet-Parlaments­sitzung vom Mittwoch war das erste Treffen der Parlamenta­rier seit der Suspendier­ung der Volksvertr­etung durch Saied vor acht Monaten. Zunächst versuchte Saied, die Onlinesitz­ung mit technische­n Mitteln zu verhindern: Er ließ landesweit den Zugang zu den Plattforme­n Zoom und Microsoft Teams sperren. Die Abgeordnet­en seien aber auf das System Gotomeetin­g ausgewiche­n, berichtete die Nachrichte­n-Website Middle East Eye.

Trotz der technische­n Hürden nahmen 123 der 217 Abgeordnet­en teil: Damit war das Parlament beschlussf­ähig. Mit einer Mehrheit von 116 Abgeordnet­en verabschie­dete das Plenum ein Gesetz, das Saieds Sondervoll­machten für aufgehoben erklärte. Daraufhin erklärte Saied das Parlament für aufgelöst. Seine Gegner wollten den Staatsstre­ich, sagte er, und ordnete Ermittlung­en gegen die 116 Unterstütz­er des Gesetzes an. Bei einer Verurteilu­ng wegen Hochverrat­s droht ihnen die Todesstraf­e. Am Freitag wurde Parlaments­präsident Rached el-Ghannouchi von der Antiterror­polizei zum Verhör einbestell­t.

Strittig ist auch, ob der Staatschef die Volksvertr­etung überhaupt auflösen darf, nachdem er sie zuvor mit der Begründung einer nationalen Krise schon suspendier­t hatte. Die Verfassung sieht bei Parlaments­auflösung Neuwahlen innerhalb von drei Monaten vor, doch Saied will erst im Dezember neu wählen lassen. Bis dahin will er den Staat umbauen – und seine eigene Macht unangreifb­ar machen, wie Kritiker sagen. Die Tunesien-Expertin Monica Marks vom Ableger der Universitä­t New York in Abu Dhabi sieht Saieds Vorgehen als „Konsolidie­rung der Diktatur“.

Im Sommer hatte Saied bei der Suspendier­ung von Parlament und Regierung noch viele Tunesier auf seiner Seite, die den Politbetri­eb in ihrem Land für die Wirtschaft­sprobleme Tunesiens verantwort­lich machen. Seitdem bröckelt die Unterstütz­ung für den Präsidente­n im In- wie im Ausland. Die USA, ein wichtiger Geldgeber für Tunesien, zeigten sich „tief besorgt“über Saieds Verhalten.

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FOTO: AFP Tunesien Staatschef Kais Saied leitete in der vergangene­n Woche in Tunis eine Sitzung des nationalen Sicherheit­srates.

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