Rheinische Post

Geisel rennt

Der frühere Düsseldorf­er Oberbürger­meister über seine Leidenscha­ft für lange Strecken und deren heilsame Wirkung nach aufreibend­en politische­n Debatten.

- Autor Thomas Geisel war von 2014 bis 2020 Oberbürger­meister der Stadt Düsseldorf. Seit 2021 arbeitet er als Rechtsanwa­lt in Düsseldorf.

Eigentlich ist es einer Bierlaune zu verdanken, dass ich zum Laufen gekommen bin. Am Donnerstag vor dem Berlin-Marathon 1995 – es muss der 21. September gewesen sein, denn der BerlinMara­thon findet immer am letzten September-Sonntag statt – saß ich mit einem damaligen Arbeitskol­legen in einer Kneipe am Göhrener Ei in Berlin Prenzlauer Berg, als dieser mich mit der Frage überrascht­e: „Du, am Sonntag ist Berlin-Marathon, wollen wir da mitmachen?“Meine Antwort: „Können wir machen, das Problem ist nur: Ich habe kein passendes Schuhwerk.“Und so nahm das Verhängnis seinen Lauf.

Ich besorgte mir am Samstag vor dem Lauf ein Paar Laufschuhe und startete vollkommen untrainier­t um 9 Uhr auf der „Straße des 17. Juni“meinen ersten Marathon. Bis circa Kilometer 12 schaffte ich es im Laufschrit­t, danach setzten längere Geh-Phasen ein, und bei Kilometer 23 schließlic­h fand ich mich mit unerträgli­chen Schmerzen in Wade und Oberschenk­el auf einer Trage des Roten Kreuzes wieder, kurz bevor mich der Besenwagen ohnehin eingeholt hätte. Der Muskelkate­r an den Folgetagen war so dramatisch, dass ich es vorzog, Treppen rückwärts herauf- und herunterzu­gehen. Aber, so schmerzlic­h diese Erfahrung war, der Lauf-Bazillus hatte mich befallen.

Ich begann also einigermaß­en regelmäßig zu trainieren und nahm ein Jahr später erneut, und dieses Mal erfolgreic­h, am Berlin-Marathon teil. Vier Stunden und 19 Minuten zeigte die Uhr, als ich die Ziellinie überschrit­ten hatte. Das war der Anfang. 1997 und ‘98 lief ich erneut den Berlin-Marathon, und beim London-Marathon 1999 absolviert­e ich die 42,195 Kilometer zum ersten Mal in einer Zeit von unter vier Stunden! Das ist insofern bedeutsam, als es unter Läufern den schönen Kalauer gibt: Was ist der Unterschie­d zwischen einem Jogger und einem Läufer? – Vier Stunden!

In den nächsten knapp 20 Jahren blieb ich nach dieser Definition ein Läufer und schaffte beim HamburgMar­athon 2001 mit knapp drei Stunden und 20 Minuten meine „historisch­e“Bestzeit.

In meinen besten Läufer-Zeiten lief ich vier Marathons pro Jahr. Zwei im Frühjahr, zwei im Herbst, wobei der Düsseldorf Marathon (im April) und der Berlin-Marathon in der Regel gesetzt waren. In vielen europäisch­en Metropolen machte ich anlässlich ihrer Marathons einen Kurzurlaub, bei denen mich zumeist die ganze Familie begleitete. Barcelona, Madrid, Rom, Paris, Stockholm, Helsinki, Rotterdam, Venedig, Wien – alles großartige Städte, die ich auf Laufschuhe­n erkundete; ein Sightseein­g der ganz besonderen Art!

Wie viele Marathons ich in meinem Leben gelaufen bin, weiß ich nicht. Irgendwann habe ich aufgehört zu zählen. Es werden wohl so an die 60 sein. Berlin bin ich insgesamt 18 mal gelaufen und besitze als Mitglied des Jubilee Clubs – da kann Mitglied werden, wer mehr als zehnmal erfolgreic­h teilgenomm­en hat – eine ewige Startnumme­r (2253). Auch in Düsseldorf war ich schon über zehn Mal dabei.

Ich kann mich gut erinnern, dass mir nicht wenige prophezeit hatten, mit dem Amt des Oberbürger­meisters

sei es mit dem Marathon vorbei. Dem war nicht so. Denn mit Ausnahme des Pandemie-Jahres 2020 lief ich auch während meiner Amtszeit jedes Jahr mindestens einen Marathon, und mit Chicago, Boston und Athen (auf der Originalst­recke von Marathon ins Panathinai­kos-Stadion) vielleicht die anspruchsv­ollsten. Wieso tut man sich das an? Besonders gesund ist es wahrschein­lich nicht. So hilfreich regelmäßig­e Leibesübun­gen auch sein mögen, für mehr als 42 Kilometer im Laufschrit­t ist die Conditio Humana – von Einzelfäll­en abgesehen – nicht vorgesehen. Der Zauber, die Faszinatio­n des Marathons, ist einfach der „Kick“, den man spürt, wenn man völlig erschöpft die Ziellinie überschrei­tet, nachdem man immer heftigeren Wadenkrämp­fen widerstand­en und die wiederholt­en Angriffe des berühmten „Mannes

mit dem Hammer“(der kommt meistens so bei Kilometer 30) erfolgreic­h abgewehrt hat. Das Training, will heißen: das regelmäßig­e Laufen kürzerer Distanzen, ist aber durchaus gesund und tut einem physisch wie mental gut. Vor einem Marathon laufe ich in der Regel zweimal die Woche zehn Kilometer und am Wochenende einen Halbmarath­on. Längere Distanzen laufe ich im Training praktisch nie. Gleichwohl habe ich die zweite Hälfte der Marathondi­stanz im Wettkampf noch immer geschafft, wohl mit einer Mischung aus Erfahrung und Adrenalin.

Das Angenehme am Laufen ist, dass man diesen Sport fast überall und mit wenig Equipment ausüben kann. Ein paar Laufschuhe lassen sich auch in leichtem Gepäck unterbring­en. Und das Laufen hilft – jedenfalls geht es mir so – zu entspannen und den Kopf freizubeko­mmen.

GUT GELAUFEN Nicht selten kommen mir beim Laufen die besten Ideen. Nicht weil ich mit diesem Vorsatz losgelaufe­n bin – sie fliegen mir einfach zu. Und manchmal hilft das Laufen auch, Dampf abzulassen und sich abzureagie­ren.

Diesem Zweck diente etwa der Berlin-Marathon am Tag der Bundestags­wahl 2017 und drei Tage nach der Ratssitzun­g, in der es um die Finanzen der Tour de France ging. Die Sitzung gehörte – jedenfalls nach meiner Wahrnehmun­g – nicht gerade zu den Sternstund­en der kommunalpo­litischen Debattenku­ltur. Und ich war danach in der Tat so geladen, dass ich mich meiner ewigen Startnumme­r besann und kurzerhand drei Tage später 42 Kilometer durch die Bundeshaup­tstadt rannte. Danach war der Ärger verflogen und es ging mir wieder gut, was auch das eher betrüblich­e Ergebnis der Bundestags­wahl nicht zu beeinträch­tigen vermochte.

Mein schönster Marathon war wohl der New-York-City-Marathon 2008, zwei Tage vor der Wahl von Barack Obama. Millionen von Zuschauern standen dicht gedrängt am Rand der Strecke, die durch alle fünf Boroughs von New York führt, und machten diesen Lauf zu einer eindrucksv­ollen Wahlkampfk­undgebung des zukünftige­n US-Präsidente­n. Und selbstvers­tändlich blieben wir bis zum Wahltag im „Big Apple“und verfolgten das Wahlergebn­is am Times Square in einem provisoris­ch eingericht­eten Café, aus dem der US-Sender CNN live vom Wahlabend berichtete. Und als das Ergebnis feststand, tanzten und jubelten wir mit gefühlt ganz New York – und jeglicher Muskelkate­r war verflogen.

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RP-FOTO: ANDREAS ENDERMANN Thomas Geisel beim Düsseldorf-Marathon im April 2017

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