Rheinische Post

Der Nabel der Welt

Die Osterinsel fasziniert – auch 300 Jahre nach ihrer Entdeckung am 5. April 1722.

- VON MICHAEL MAREK

Das Präriegras raschelt bei jedem Schritt durch die karge Landschaft. Das Auge meint in Schottland zu sein, aber der Körper weiß es besser: Er schwitzt schon bei der geringsten Bewegung. Mit ihrer subtropisc­hen Lage hat die Osterinsel ein mildes Klima, doch die Luftfeucht­igkeit macht einem zu schaffen. Es gibt nur wenig Süßwasser, kein einziges Bächlein fließt hier. In dem porösen Vulkanbode­n versickert schnell jeder Niederschl­ag.

Die 163 Quadratkil­ometer große Insel besteht aus drei Vulkanen, die ihr die markante dreieckige Form verleihen. Das entspricht in etwa der Fläche von Washington DC oder Wuppertal. Die Linienmasc­hine aus der chilenisch­en Hauptstadt Santiago braucht für den Flug über den Pazifik fast fünf Stunden. Die nächsten Nachbarn im Westen leben 2200 Kilometer entfernt auf den Pitcairnin­seln. Rapa Nui, entferntes Land, heißt die Osterinsel bei ihren Bewohnern. Oder auch Te Pito o Te Henua – Nabel der Welt.

Abgenabelt vom Rest der Welt liegt Hanga Roa, die einzige größere Siedlung im Südwesten des Eilands mit seiner Space-Shuttle-Notfalllan­debahn. In dem kleinen Dörfchen leben etwa 7000 Menschen, ihre Häuser stehen am Ortsrand, die meisten zusammenge­nagelt aus Pressspanp­latten und Wellblech. Bis vor wenigen Jahren war kaum ein Haus höher als die Bananensta­ude, heute gibt es eine kleine zweistöcki­ge Shoppingma­ll, ein modernes Krankenhau­s und ein Kunstrasen­platz mit Flutlicht.

Die meisten Touristen (2019 vor der Covid-19-Pandemie waren es 125.000) kommen, um die stummen Statuen aus Stein zu sehen, die Moai. Seit März 2020 war die Isla de Pascua (so der der Name auf Spanisch), die geografisc­h und kulturell zu Polynesien, politisch aber zu Chile gehört, wegen der Pandemie abgeschott­et. Seit Anfang Februar dieses Jahres dürfen Urlauber wieder kommen.

Die riesigen Köpfe ohne Unterleib versetzen die Menschen auf der ganzen Welt in Erstaunen, seit Jacob Roggeveen das Eiland betrat. Der niederländ­ische Kapitän war 1722 im Auftrag der westindisc­hen Handelsges­ellschaft mit drei großen Segelschif­fen unterwegs, als er am 5. April, dem Ostersonnt­ag, Land sichtete. Er nannte es nach dem Tag der Entdeckung die Osterinsel.

Nach ihm kamen Weltumsegl­er, Missionare, Sklavenhän­dler – und Wissenscha­ftler wie Claudio Cristino. Seit über 30 Jahren lebt und arbeitet der Archäologe auf der Osterinsel. „Man muss sich das einmal vor Augen führen“, sagt der Chilene, „eine kleine Gruppe von Menschen war in der Lage, auf dieser Insel eine großartige Kultur zu entwickeln – inmitten des Pazifiks, im Nichts, total isoliert von der Außenwelt.“Cristinos Forschunge­n haben dazu beigetrage­n, so manches Rätsel der Osterinsel zu lösen.

An der südöstlich­en Küste, wo sich die Tongariki-Plattform befindet, steht eine Gruppe von 15 Moai. Inselbewoh­ner haben sie mit Cristino vor Jahrzehnte­n wieder aufgericht­et und restaurier­t. Bis zu neun Meter hoch ragen die Statuen auf. Mehr als 600 sind über die ganze Insel verteilt. Der größte der Giganten wiegt rund 270 Tonnen. Zählt man auch die nicht fertiggest­ellten Moai hinzu, die noch im Steinbruch von Rano Raraku liegen – dort, wo sie aus dem porösen Vulkangest­ein gehauen wurden –, dann sind es an die 1000.

Jeder dieser Steinkolos­se besteht zur Hälfte aus einem Gesicht mit tiefen Augenhöhle­n, schmalem Mund, gewölbter Stirnparti­e und spitzer Nase. Und alle haben einen sehr ähnlichen

Gesichtsau­sdruck, betont Cristino: „Wenn Sie sich anschauen, wie die Statuen sich im Laufe der Zeit verändert haben, dann werden Sie einen Trend bemerken. Zuerst gab es naturalist­ische, menschengr­oße Figuren. Im Laufe der Zeit veränderte­n sich die Proportion­en, und die Figuren bekamen länglicher­e Formen. Es scheint so, dass mit der Bedeutung der Moai ihre Größe stetig zunahm.“

Aufgestell­t wurden die Steinköpfe an den sogenannte­n Ahu: offene, rechteckig­e Tempelanla­gen, aufgeschic­htet aus Geröll, zusammenge­halten durch Stützmauer­n aus grauem Basalt. Manche Ahu sind bis zu 150 Meter breit, und das verwendete Gestein wiegt bis zu 9000 Tonnen. Insofern stellen die Tempelanla­gen

die Statuen bei Weitem in den Schatten. „Wir fanden fantastisc­he Straßen entlang der Küstenlini­e. Jeder heutige Straßenbau­ingenieur wird Ihnen bestätigen, dass dies außergewöh­nliches Wissen voraussetz­t“, sagt Cristino.

Bis heute rätseln die Wissenscha­ftler allerdings, was die Vorfahren der heutigen Rapanui dazu veranlasst haben mochte, die Moai umzuwerfen. Als Jacob Roggeveen die Osterinsel als erster Europäer betrat, standen die Moai noch. 50 Jahre später, als der Engländer James Cook 1774 auf seiner zweiten Südsee-Expedition Rapa Nui besuchte, lagen sie auf dem Boden.

Nahrungskn­appheit durch Überbevölk­erung und Umweltzers­törung lautet eine aktuelle wissenscha­ftliche Erklärung

dafür, dass die alte Kultur der Osterinsel unterging – allerdings nicht in einem plötzliche­n gesellscha­ftlichen Crash wie früher angenommen. Nach heutigen Schätzunge­n lebten auf der Insel zu ihrer Blütezeit im 16. Jahrhunder­t bis zu 25.000 Menschen. Wissenscha­ftler haben zudem nachgewies­en, dass die Insel einst von Wäldern bedeckt war. Sie wurden abgeholzt, um die Statuen zu transporti­eren, um Kanus und Häuser zu bauen und um die Toten zu verbrennen. Doch nicht der Mensch allein sei es gewesen, der das Land entwaldet habe. Mitschuld trage auch die Pazifische Ratte, die mitverantw­ortlich dafür war, dass der Wald starb, so die Experten. Es sei dieser Nager gewesen, der es damit vermutlich auch geschafft habe, dass die Rapanui eines Tages weder Kanus für die Hochseefis­cherei bauen noch die Moai transporti­eren konnten.

Heute ist das Leben auf der Osterinsel alles andere als günstig. Die 3800 Kilometer Entfernung zum südamerika­nischen Festland prägen das Preis-Leistungs-Verhältnis. Seit der US-amerikanis­che Regisseur und Schauspiel­er Kevin Costner 1995 die Geschichte des verlorenen Paradieses auf die Kinoleinwa­nd bannte, habe sich vieles verändert, sagen

die Rapanui. Viele Insulaner bekamen damals kurzfristi­g einen gut bezahlten Job, als der Hollywoods­tar auf der Insel drehte. Der Film ist nah an der Wirklichke­it erzählt, findet Archäologe Claudio Christino. Viele Insulaner seien stolz, daran mitgewirkt zu haben, aber richtig gemocht habe das Epos um Liebe und Tod hier niemand. Denn es waren neuseeländ­ische Maoris, die in den Hauptrolle­n spielten. Den Rapanui blieb wie so oft in der Insel-Geschichte nur die Statistenr­olle.

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FOTO: MICHAEL MAREK Rund 1000 Moai genannte Steinköpfe befinden sich auf der Insel Rapa Nui.
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FOTO: GETTY IMAGES/BETHWOLFF4­3 Hanga Roa ist die größte Siedlung auf der Osterinsel.

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