Rheinische Post

Auf einen Schnaps in die Nachtigall

Das Haus an der Nachtigall­straße mit der Gaststätte im Erdgeschos­s hat eine mehr als 130-jährige, oft feuchtfröh­liche Geschichte.

- VON MARC INGEL

GERRESHEIM Das Haus an der Ecke Nachtigall­straße/Büdingenst­raße wird gerade saniert. Das Dach wird neu gedeckt, die Fassade gestrichen. Das Gebäude befindet sich seit 1910 im Besitz der Familie Haumann, die Mitglieder haben inzwischen durch Heirat zum Teil diverse andere Nachnamen angenommen, was aber nur für später womöglich auftretend­e Irritation­en an dieser Stelle erwähnt sein soll. Dort war immer auch der Schriftzug „Karl Haumann 1890“zu lesen, was auf den Bau des Hauses zurückzufü­hren ist, Haumann kaufte es 20 Jahre später. Genau genommen passen Namen und Jahreszahl also eigentlich nicht zusammen, aber Schwamm drüber. Jedenfalls wechselte der ursprüngli­che Landwirt mit dem Erwerb der Immobilie fortan seinen Job und wurde zum Wirt, denn im Erdgeschos­s befindet sich die in Gerresheim legendäre Kneipe „Zur Nachtigall“– aber dazu später mehr.

Noch einmal kurz zurück in die Gegenwart: Die Anstreiche­r hatten den Namenszug übermalt, was Kari-Ann Haumann ziemlich schade fand. Die Nachfahrin jenes Karl Haumann setzte sich in den Kopf, das wieder geradezubi­egen und den alten Schriftzug wiederherz­ustellen, obwohl sie keine Malerin ist. „Allein aus Familienve­rbundenhei­t“, wie die 26-Jährige betont. Und außerdem wohnt sie ja auch in dem Haus.

Karl Haumann war der Großvater von Gundel Seibel. Sie weiß noch vieles von damals, hat einiges selbst miterlebt, anderes sich erzählen lassen, hat Fotos und Dokumente zur Familienge­schichte gesammelt – wie die Kopie des Kaufvertra­ges, in dem der Karl noch mit C geschriebe­n wurde, „weil sich das K wahrschein­lich schicker las“, spekuliert Kari-Ann Haumann. In jener Kneipe „Zur Nachtigall“war damals jedenfalls „die Hölle los, mein Großvater hat sich vor allem mit seinem Schnaps eine goldene Nase verdient – erzählt man sich zumindest“, so Gundel Seibel.

Denn die Gaststätte befand sich in unmittelba­rer Nähe zur Gerresheim­er Glashütte, und natürlich hatten die Arbeiter mächtigen Durst nach der harten Arbeit. Zudem galt das Viertel als Kommuniste­n-Hochburg, was mit der entscheide­nde Grund dafür gewesen sein mag, dass Gerhard Haumann die Kneipe seines Vaters 1939 abgab und doch lieber Bauer in Erkrath werden wollte. Bauer oder Wirt, das waren halt die zwei Alternativ­en bei den Haumanns.

Mit Bier hatten es die Glasbläser allerdings nicht so: „Die tranken fast alle nur Schnaps – aus Wassergläs­ern. Die haben sich sogar eigene Flaschen geblasen, da passte dann mehr rein, wenn sie den Fusel auch noch mit nach Hause nehmen wollten“, berichtet Gundel Seibel. Man kann sich ungefähr ausmalen, dass in der Gerresheim­er Nachtigall bisweilen bis tief in die Nacht ziemlich die Post abging.

Bezahlt wurde meist nur einmal in der Woche, wenn die Lohntüte voll war, dann kramte Haumann die Bierdeckel hervor, die er in einem Kasten gesammelt hatte. Als ein vermeintli­ch gewiefter Gast diesen Kasten einmal in der Hoffnung, ungestraft die Zeche prellen zu können, in den Ofen der Gaststätte warf, hatte er die Rechnung ohne den Wirt gemacht. „Mein Opa hatte eine doppelte Buchführun­g“, erzählt die Enkelin

Es gab in der Nachtigall auch ein Tabakwaren­geschäft, ein Durchgang führte in den Laden nebenan, Schwester Frieda Haumann führte hier das Geschäft. Und auch ein Raucherclu­b hatte sich etabliert, „das war aber wohl nicht mehr als ein Stammtisch, eine Ausrede für zu Hause, einen saufen zu gehen“, ist sich Kari-Ann Haumann ziemlich sicher. Und es gab oben einen Saal, der inzwischen längst zu Apartments umgebaut wurde, in dem früher aber von der Tanzverans­taltung bis zur Karnevalsp­arty halb Gerresheim zu Gast war. „Und in den 60er-Jahren kam das Kino“, berichtet Seibel. „Schluppenk­ino“nannte man es, weil die Besucher sich nicht die Mühe machten, sich fein herauszupu­tzen, in Pantoffeln kamen – zu Hause gab es ja noch kein Fernsehen. Nebenan war die Badeanstal­t, geschwomme­n wurde dort aber nicht. „Da gab‘s nur Wannenbäde­r, denn ein Badezimmer oder gar eine Badewanne suchte man in den Arbeiterwo­hnungen natürlich auch vergebens“, erzählt Seibel.

Ab den 60er-Jahren war die Gaststätte nur noch in italienisc­her Hand, nicht umsonst bezeichnet man Gerresheim ja gerne als Little Italy. Seit fünf Jahren heißt sie La Ruota – immer noch mit dem Zusatz „in der Nachtigall“. Der Pächter Franco Vecchio hat noch ein altes Gemälde mit Glasbläser-Motiv im Restaurant hängen, als Reminiszen­z an die gute alte Zeit. Das Gebäude befindet sich nun im Besitz von Brigitte Haumann, Christof Seibel (dem Sohn von Gundel Seibel) und Annegret Klens (geborene Haumann). „Wir machen das Haus jetzt hübsch für die fünfte Generation“, sagt Gundel Seibel. Denn es zu verkaufen, daran hat die Familie bis heute keinen Gedanken verschwend­et.

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 ?? ?? Die Nachtigall war Anfang des 20. Jahrhunder­ts ein Dreh- und Angelpunkt vieler Mitarbeite­r der Glashütte – die Badeanstal­t nebenan natürlich auch.
Die Nachtigall war Anfang des 20. Jahrhunder­ts ein Dreh- und Angelpunkt vieler Mitarbeite­r der Glashütte – die Badeanstal­t nebenan natürlich auch.
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FOTOS (4): PRIVAT/NACHLASS HAUMANN Ganz schön viel los an der Nachtigall­straße. Hier verkehrte halb Gerresheim.
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RP-FOTOS (2): INGEL Das Haus wird gerade saniert, damitauch die fünfte Generation der Haumanns ihre Freude daran hat.
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Karl Haumann war eigentlich Bauer. Doch mit dem Erwerb des Hauses an der Nachtigall­straße wurde er zum Wirt.
 ?? ?? Kari-Ann Haumann hat den Schriftzug an dem Gebäude mit Baujahr und Namen ihres Vorfahren erneuert.
Kari-Ann Haumann hat den Schriftzug an dem Gebäude mit Baujahr und Namen ihres Vorfahren erneuert.

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