Rheinische Post

Gewagtes Manöver

- VON HOLGER MÖHLE

Christine Lambrecht reist ab sofort mit schwerem Gepäck: Deutschlan­d als Führungsma­cht. Ein Wort wie ein Ausrufezei­chen. Das wiegt schwer. Daran kann man sich verheben – auch und gerade als deutsche Verteidigu­ngsministe­rin. Das weckt Erwartunge­n im Ausland, an denen Lambrecht nicht mehr vorbeisehe­n kann. Und das ist ein Anspruch, dem sie auch der Bundeswehr gegenüber gerecht werden muss. Die Inhaberin der Befehls- und Kommandoge­walt hat in ihrer Grundsatzr­ede das Kommando ausgegeben, für Deutschlan­d in Europa und in der Welt eine Führungsro­lle zu beanspruch­en – auch militärisc­h. Angesichts der latenten Überlastun­g und Überforder­ung der Truppe, die nach eigenem Bekunden mit Auslandsei­nsätzen auf drei Kontinente­n permanent am Limit ihrer Möglichkei­ten ist, vollzieht Lambrecht ein gewagtes Manöver.

Diese Bundesregi­erung ist gerade dabei, erstmals eine nationale Sicherheit­sstrategie aufzulegen, die den Begriff Sicherheit umfassend definiert. Unter dem Eindruck des Ukraine-Krieges ist die internatio­nale Friedensor­dnung einem extremen Stresstest ausgesetzt, alte Gewissheit­en gelten nicht mehr, neue Gefahren sind dazugekomm­en. Selten war die Sehnsucht vieler Menschen nach Sicherheit größer als jetzt.

Lambrecht könnte nun vorangehen, wenn sie wollte und den Mut dazu hätte. Als Führungsma­cht kann sich Deutschlan­d nicht weiter hinter den alliierten Partnern verstecken, sondern müsste liefern – auch deutsche Schützen- und Kampfpanze­r an die Ukraine. Wer Führung ankündigt, muss auch Führung zeigen. 100 Milliarden Euro aus dem Sonderverm­ögen Bundeswehr klug und auch zügig so auszugeben, dass die Truppe tatsächlic­h neu aufgestell­t und ausgerüste­t wird, ist ohnehin eine Kunst. Lambrecht hat gesagt: „Deutschlan­d kann das.“Nun führt sie das Kommando. Jetzt muss sie es auch können.

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