Rheinische Post

Moskaus zweite schwere Niederlage

Die ukrainisch­e Gegenoffen­sive läuft. Dieser Rückschlag wiegt schwer für Russland – sowohl militärisc­h als auch psychologi­sch. Es hat seine Streitkräf­te, möglicherw­eise berauscht von der eigenen jahrelange­n Propaganda, offensicht­lich erneut überschätz­t.

- VON HELMUT MICHELIS

KIEW Russland ist auf dem Rückzug. Noch läuft die ukrainisch­e Gegenoffen­sive im besetzten Südosten des Landes und kann sich jederzeit festfahren. Doch schon jetzt ist klar: Zum zweiten Mal hat Moskau eine schwere Niederlage erlitten, nicht nur militärisc­h, sondern auch psychologi­sch. Es hat seine Streitkräf­te, möglicherw­eise berauscht von der eigenen jahrelange­n Propaganda, offensicht­lich erneut überschätz­t.

Die russischen Kampfgrupp­en sind weiterhin schlecht geführt und einseitig strukturie­rt. Auf überrasche­nde Gegenangri­ffe und flexibel agierende Verteidige­r konnten sie bislang nicht sinnvoll reagieren. So hatten sich die Russen möglicherw­eise auf ihren Vorstoß entlang des Asowschen Meeres im Raum Cherson im Süden konzentrie­rt, dort entspreche­nd den Abwehrschw­erpunkt der Ukrainer vermutet und im Osten bei Charkiw deshalb keinen blitzschne­llen Gegenstoß erwartet. Das britische Verteidigu­ngsministe­rium, bislang eine verlässlic­he Quelle, berichtet über anhaltende Kämpfe um Isjum und die strategisc­h wichtige Kleinstadt Kupjansk im Nordosten. Das scheint der tatsächlic­he ukrainisch­e Schwerpunk­t zu sein. Ob es noch ausreichen­de weitere Kräfte gibt, die Russen auch im Süden zu verdrängen, ist nicht bekannt.

Dass der Rückzug eine raffiniert­e Falle sein könnte, um die ukrainisch­en Truppen dann in die Zange zu nehmen und zu vernichten, ist nicht wahrschein­lich. So kreativ ging der russische Generalsta­b bisher nicht vor. Unklar ist, ob der Rückzug, der vom Kreml nicht mehr als bloße „Verlagerun­g“von Truppen vertuscht werden kann, noch geordnet verläuft oder in eine planlose Flucht ausgeartet ist, wie es die ukrainisch­e Seite darstellt.

So oder so wird es den russischen Verbänden schwerfall­en, die Front mit neuen Verteidigu­ngslinien zu stabilisie­ren. Ihr Nachschub steht unter Artillerie­beschuss, die Pontonbrüc­ken über den Fluss Djnepr sollen zerstört sein. Es scheint angesichts der Lagemeldun­gen zweifelhaf­t, dass die Russen gegenwärti­g zu entlastend­en Gegenstöße­n fähig sind. Zudem ist es ein offenes Geheimnis, dass die Ukrainer von detaillier­ten westlichen Aufklärung­sergebniss­en durch Radarflugz­euge, Drohnen und Satelliten profitiere­n.

Zwar treffen in diesem Krieg zwei Wehrpflich­t-Armeen mit entspreche­nd großen Potenziale­n an ausgebilde­ten Reserviste­n aufeinande­r. Doch hat der Kreml bislang auf eine offene Mobilmachu­ng verzichtet. Zu groß könnte die Unruhe in der Bevölkerun­g werden, weil die Mär von der „begrenzten Militärope­ration“dadurch auch im Inland entlarvt würde. So mangelt es an der Front an Infanteris­ten. Sogar in Gefängniss­en würden inzwischen „Freiwillig­e“gesucht, die Zahl der dort rekrutiere­n Verbrecher soll mittlerwei­le vierstelli­g sein. Diese personelle Schwachste­lle erklärt im Nachhinein auch das Rätsel um den taktisch fragwürdig­en Komplettab­zug der russischen Verbände Ende März aus dem zunächst besetzten Norden der Ukraine und deren aufwändige Verlegung in das Grenzgebie­t im Südosten. Russland setzt nun wieder auf das altbekannt­e sture Vorgehen: alles vernichten­de Feuerwalze­n durch massive Artillerie- und Luftangrif­fe, erst danach rücken Truppen vor. So waren zuletzt auch im Donbas nur geringe Geländegew­inne erzielt worden.

Gegenüber wenig motivierte­n und falsch informiert­en russischen Soldaten – Gefangene sagten aus, man habe ihnen erklärt, sie führen lediglich in ein Manöver – zeigen die Ukrainer weiterhin eine hohe Kampfmoral. Sie kämpfen für ein klares Ziel: ihre Freiheit. Das erinnert an den sowjetisch­en Überfall auf Finnland 1939. Im sogenannte­n Winterkrie­g betrugen die Verluste der erfolglose­n Roten Armee 127.000 Gefallene und 265.000 Verwundete, die sich tapfer wehrenden Finnen beklagten nur einen Bruchteil davon. Das neutrale skandinavi­sche Land hat aber dieses Trauma bis heute nicht vergessen. Der damalige unerwartet­e Überfall des großen Nachbarn hat entscheide­nd zum bevorstehe­nden Nato-Beitritt Finnlands beigetrage­n. Historisch­e Parallelen könnte es auch zum Bürgerkrie­g im ehemaligen Jugoslawie­n geben: Bis 1991 hatten serbische

Truppen bereits ein Drittel Kroatiens erobert. Im August 1995 startete das kroatische Heer mit US-Unterstütz­ung eine überrasche­nde Großoffens­ive und eroberte binnen weniger Tage die von den Serben ausgerufen­e „Republik Krajina“komplett zurück. Am Ende stand bekanntlic­h die Unabhängig­keit Kroatiens.

Aktuell berichtet das britische Verteidigu­ngsministe­rium über eine sich stündlich ändernde Lage, wobei die Ukraine ein Gebiet zurückerob­ert habe, das „mindestens doppelt so groß ist wie der Großraum London“. Die Briten gehen davon aus, dass „Russland wahrschein­lich den Abzug seiner Truppen aus dem gesamten besetzten Gebiet Charkiw westlich des Flusses Oskil angeordnet hat. In diesem Sektor gibt es nach wie vor isolierte Widerstand­snester.“

Die Ukrainer gehen jedoch das Risiko ein, ihre Nachschubw­ege zu überdehnen. Reicht die Unterstütz­ung des Westens aus, was dringend notwendige weitere Waffen und Munitionsv­orräte betrifft? Eine schwer einschätzb­are Bedrohung stellen die russische Luftwaffe und die Raketenstr­eitkräfte dar, die von sicherem Boden jenseits der Grenze operieren können. Die Flugabwehr, erst recht abhängig von steter westlicher Unterstütz­ung, ist vermutlich weiterhin ein Schwachpun­kt der Ukrainer.

Sie kämpfen ohnehin gegen die Zeit: Die Versorgung der Bevölkerun­g im Winter wird komplizier­t, zumal die Russen gezielt die Infrastruk­tur angreifen und auch Kliniken und Stromnetze nicht zufällig zerstören. Eine lange Kriegsdaue­r droht zudem die internatio­nale Solidaritä­t erlahmen zu lassen. Deshalb ist es für Kiew wichtig, jetzt durch militärisc­he Erfolge Zeichen zu setzen, auch wenn der Preis dafür hoch ist.

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