Moskaus zweite schwere Niederlage
Die ukrainische Gegenoffensive läuft. Dieser Rückschlag wiegt schwer für Russland – sowohl militärisch als auch psychologisch. Es hat seine Streitkräfte, möglicherweise berauscht von der eigenen jahrelangen Propaganda, offensichtlich erneut überschätzt.
KIEW Russland ist auf dem Rückzug. Noch läuft die ukrainische Gegenoffensive im besetzten Südosten des Landes und kann sich jederzeit festfahren. Doch schon jetzt ist klar: Zum zweiten Mal hat Moskau eine schwere Niederlage erlitten, nicht nur militärisch, sondern auch psychologisch. Es hat seine Streitkräfte, möglicherweise berauscht von der eigenen jahrelangen Propaganda, offensichtlich erneut überschätzt.
Die russischen Kampfgruppen sind weiterhin schlecht geführt und einseitig strukturiert. Auf überraschende Gegenangriffe und flexibel agierende Verteidiger konnten sie bislang nicht sinnvoll reagieren. So hatten sich die Russen möglicherweise auf ihren Vorstoß entlang des Asowschen Meeres im Raum Cherson im Süden konzentriert, dort entsprechend den Abwehrschwerpunkt der Ukrainer vermutet und im Osten bei Charkiw deshalb keinen blitzschnellen Gegenstoß erwartet. Das britische Verteidigungsministerium, bislang eine verlässliche Quelle, berichtet über anhaltende Kämpfe um Isjum und die strategisch wichtige Kleinstadt Kupjansk im Nordosten. Das scheint der tatsächliche ukrainische Schwerpunkt zu sein. Ob es noch ausreichende weitere Kräfte gibt, die Russen auch im Süden zu verdrängen, ist nicht bekannt.
Dass der Rückzug eine raffinierte Falle sein könnte, um die ukrainischen Truppen dann in die Zange zu nehmen und zu vernichten, ist nicht wahrscheinlich. So kreativ ging der russische Generalstab bisher nicht vor. Unklar ist, ob der Rückzug, der vom Kreml nicht mehr als bloße „Verlagerung“von Truppen vertuscht werden kann, noch geordnet verläuft oder in eine planlose Flucht ausgeartet ist, wie es die ukrainische Seite darstellt.
So oder so wird es den russischen Verbänden schwerfallen, die Front mit neuen Verteidigungslinien zu stabilisieren. Ihr Nachschub steht unter Artilleriebeschuss, die Pontonbrücken über den Fluss Djnepr sollen zerstört sein. Es scheint angesichts der Lagemeldungen zweifelhaft, dass die Russen gegenwärtig zu entlastenden Gegenstößen fähig sind. Zudem ist es ein offenes Geheimnis, dass die Ukrainer von detaillierten westlichen Aufklärungsergebnissen durch Radarflugzeuge, Drohnen und Satelliten profitieren.
Zwar treffen in diesem Krieg zwei Wehrpflicht-Armeen mit entsprechend großen Potenzialen an ausgebildeten Reservisten aufeinander. Doch hat der Kreml bislang auf eine offene Mobilmachung verzichtet. Zu groß könnte die Unruhe in der Bevölkerung werden, weil die Mär von der „begrenzten Militäroperation“dadurch auch im Inland entlarvt würde. So mangelt es an der Front an Infanteristen. Sogar in Gefängnissen würden inzwischen „Freiwillige“gesucht, die Zahl der dort rekrutieren Verbrecher soll mittlerweile vierstellig sein. Diese personelle Schwachstelle erklärt im Nachhinein auch das Rätsel um den taktisch fragwürdigen Komplettabzug der russischen Verbände Ende März aus dem zunächst besetzten Norden der Ukraine und deren aufwändige Verlegung in das Grenzgebiet im Südosten. Russland setzt nun wieder auf das altbekannte sture Vorgehen: alles vernichtende Feuerwalzen durch massive Artillerie- und Luftangriffe, erst danach rücken Truppen vor. So waren zuletzt auch im Donbas nur geringe Geländegewinne erzielt worden.
Gegenüber wenig motivierten und falsch informierten russischen Soldaten – Gefangene sagten aus, man habe ihnen erklärt, sie führen lediglich in ein Manöver – zeigen die Ukrainer weiterhin eine hohe Kampfmoral. Sie kämpfen für ein klares Ziel: ihre Freiheit. Das erinnert an den sowjetischen Überfall auf Finnland 1939. Im sogenannten Winterkrieg betrugen die Verluste der erfolglosen Roten Armee 127.000 Gefallene und 265.000 Verwundete, die sich tapfer wehrenden Finnen beklagten nur einen Bruchteil davon. Das neutrale skandinavische Land hat aber dieses Trauma bis heute nicht vergessen. Der damalige unerwartete Überfall des großen Nachbarn hat entscheidend zum bevorstehenden Nato-Beitritt Finnlands beigetragen. Historische Parallelen könnte es auch zum Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien geben: Bis 1991 hatten serbische
Truppen bereits ein Drittel Kroatiens erobert. Im August 1995 startete das kroatische Heer mit US-Unterstützung eine überraschende Großoffensive und eroberte binnen weniger Tage die von den Serben ausgerufene „Republik Krajina“komplett zurück. Am Ende stand bekanntlich die Unabhängigkeit Kroatiens.
Aktuell berichtet das britische Verteidigungsministerium über eine sich stündlich ändernde Lage, wobei die Ukraine ein Gebiet zurückerobert habe, das „mindestens doppelt so groß ist wie der Großraum London“. Die Briten gehen davon aus, dass „Russland wahrscheinlich den Abzug seiner Truppen aus dem gesamten besetzten Gebiet Charkiw westlich des Flusses Oskil angeordnet hat. In diesem Sektor gibt es nach wie vor isolierte Widerstandsnester.“
Die Ukrainer gehen jedoch das Risiko ein, ihre Nachschubwege zu überdehnen. Reicht die Unterstützung des Westens aus, was dringend notwendige weitere Waffen und Munitionsvorräte betrifft? Eine schwer einschätzbare Bedrohung stellen die russische Luftwaffe und die Raketenstreitkräfte dar, die von sicherem Boden jenseits der Grenze operieren können. Die Flugabwehr, erst recht abhängig von steter westlicher Unterstützung, ist vermutlich weiterhin ein Schwachpunkt der Ukrainer.
Sie kämpfen ohnehin gegen die Zeit: Die Versorgung der Bevölkerung im Winter wird kompliziert, zumal die Russen gezielt die Infrastruktur angreifen und auch Kliniken und Stromnetze nicht zufällig zerstören. Eine lange Kriegsdauer droht zudem die internationale Solidarität erlahmen zu lassen. Deshalb ist es für Kiew wichtig, jetzt durch militärische Erfolge Zeichen zu setzen, auch wenn der Preis dafür hoch ist.