In der Politik trifft Poesie manchmal den besseren Ton
Harsche Kommunikation bestimmt das politische Tagesgeschäft. Der ukrainische Präsident zeigt, dass man auch anders einen Punkt machen kann.
DÜSSELDORF „Glaubt ihr immer noch, wir sind ein Volk?“, fragt Wolodymyr Selenskyj in einem gerade bei Telegram und Facebook veröffentlichten Text, der sich leidenschaftlich gegen Russland richtet. „Glaubt ihr immer noch, ihr könnt uns einschüchtern?“Dann wird der ukrainische Präsident richtig lyrisch: „Ohne Benzin oder ohne euch? Ohne euch. Ohne euch oder ohne Licht? Ohne euch. Ohne Wasser oder ohne euch? Ohne euch. Ohne Essen oder ohne euch? Ohne euch.“Irgendwann werde die Ukraine alles, was sie jetzt entbehren muss, wiederhaben – „ohne euch“.
Der Ton lässt aufhorchen. Das ist nicht die Sprache des Krieges mit kalten, abgenutzten militärischen Vokabeln. Die Fronten werden hier auf andere Weise abgesteckt. Selenskyj gelingt es, die Kompromisslosigkeit,
die den Freiheitskampf seines Volkes von Anbeginn an prägt, in wenigen Zeilen auf den Punkt zu bringen. Keine lange Rede hätte eine solche Wirkung.
Tatsächlich liegen Politik und Poesie näher beieinander als vermutet. Bei der Amtseinführung von US-Präsident Joe Biden rührte die Lyrikerin Amanda Gorman mit ihrem Gedicht „The Hill We Climb“die gespaltene Nation. Gorman beschwor darin die Vielfalt des Landes, das noch unter dem Schock der Erstürmung des Kapitols stand. Das Echo war so außerordentlich, dass die Schriftsteller Simone Buchholz, Dimitrij Kapitelman und Mithu Sanyal nach der jüngsten Bundestagswahl forderten, eine Parlamentspoetin einzustellen. Diese solle Gedichte zur gesellschaftspolitischen Lage schreiben und im Plenum vortragen. Der Effekt könne heilend und versöhnend sein.
Im Vereinigten Königreich ist der Poet Laureate (lorbeergekrönter Dichter) eine seit Jahrhunderten bekannte Institution. Das Amt des Hofdichters verlangt, Gedichte für offizielle Anlässe und nationale Ereignisse zu verfassen. In den USA beschränkt sich die Aufgabe des
Poet Laureate, die Kongressbibliothek in Sachen Lyrik zu beraten. Die jährlich wechselnde Position ist mit 35.000 Dollar dotiert. Auch Kanada kennt einen Parlamentspoeten.
Bei den alten Griechen und im antiken Rom war es gang und gäbe, dass Dichter und Philosophen politische Ämter bekleideten. Der frühere tschechische Präsident Václav Havel war von Haus aus Dramatiker, der deutsche Diplomat Günter Gaus verfasste die Erzählung „Wendewut“, Jeffrey Archer erlangte größere Popularität durch seine Romane als durch seinen Sitz im britischen Oberhaus, und sogar der Top-Spion der DDR, Markus Wolf, versuchte sich literarisch in seinem Werk „Die Troika“,
Immerhin weist ein prominentes Mitglied der aktuellen Bundesregierung einen literarischen Background auf: Robert Habeck. Der Wirtschaftsminister und Vizekanzler promovierte mit einer Arbeit über „Die Natur der Literatur“und schrieb mit seiner Frau Andrea mehrere Romane. Habecks Kommunikationskultur wird allenthalben gelobt.
Doch zu einer Parlamentspoetin oder -poeten ist es hierzulande bislang nicht gekommen. Zu poetischen Ergüssen dagegen schon: „Deutsche, kauft deutsche Zitronen / So schrillt sie, eure Melodei / Das Hirn vom Denken zu verschonen / Da seid ihr stets ganz vorn dabei / AfD – oh weh, oh weh“, so begann der Wuppertaler Bundestagsabgeordnete Helge Lindh (SPD) Anfang 2021 seine komplett in Versform gehaltene Rede gegen Anträge der AfD-Fraktion zur Bewahrung der deutschen Sprache. Der Vortrag erinnerte zwar mehr an eine Büttenrede, erzeugte aber mehr Aufmerksamkeit als jeder andere Debattenbeitrag an diesem Tag. Dass der AfD-Vorsitzende Tino Chrupalla einmal das Amt eines Poet Laureate bekleiden könnte, gilt indes als ausgeschlossen. Er hatte zwar gefordert, dass wieder mehr deutsche Gedichte gelernt werden sollten, konnte aber auf Nachfrage kein einziges Lieblingsgedicht nennen.