Wer leugnet, soll hinter Gitter
Fast unbemerkt hat der Bundestag Ende Oktober ein Gesetz verabschiedet, das es in sich hat. Die Leipziger Strafrechtsprofessorin Elisa Hoven spricht von einer „kleinen Revolution im Strafrecht“. Das Parlament hat die Leugnung aller Völkermorde, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen unter Strafe gestellt. Wer also die Untaten des Kolonialismus oder des Stalinismus herunterspielt oder leugnet, muss mit Strafen von bis zu drei Jahren Haft rechnen. Die Änderung wurde im Rahmen eines Artikelgesetzes an eine Änderung des Bundeszentralregisters angehängt und eine Stunde vor Mitternacht beschlossen.
Die Absicht ist aller Ehren wert. Es ist Opfern monströser Verbrechen nicht zuzumuten, dass sie von Tätern und deren Sympathisanten mit einer Leugnung ein zweites Mal verhöhnt werden. Doch ist dafür das Strafrecht das geeignete Mittel? Der Leipziger Staatsrechtler Christoph Degenhart hält das für fragwürdig: „Die Leugnung von Völkermorden, Menschheitsverbrechen und Kriegsverbrechen generell unter Strafe zu stellen, ist rechtlich hochproblematisch. Was rechtlich als Völkermord gilt, ist nicht eindeutig bestimmt.“
Nach der neuen Rechtsvorschrift sind Ort und Zeit der Taten unerheblich. Es geht ausschließlich darum, ob die Billigung, Leugnung oder „gröbliche“Verharmlosung geeignet ist, „zu Hass oder Gewalt aufzustacheln und den öffentlichen Frieden zu stören“, wie es im Gesetzestext zur Änderung des Paragrafen 130 Strafgesetzbuch im neuen Absatz 5 heißt. Danach müssten die Staatsanwälte grundsätzlich jeden verfolgen, der aktuelle oder vergangene Grausamkeiten dieser Art infrage stellt – ob es sich um Verbrechen der spanischen Konquistadoren
im alten Amerika oder die jüngsten Morde der Russen im ukrainischen Butscha handelt.
Was Historiker, Kriegsbeobachter, amtliche Stellen oder internationale Organisationen als Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit anprangern, müssen deutsche Gerichte nun abermals bewerten. „Das überlastet die Gerichte“, sagt Degenhart. Es schränkt überdies die Meinungsfreiheit ein, weil nach Artikel 5 des Grundgesetzes auch unrichtige Meinungen von diesem Grundrecht gedeckt sind. Die freie Rede lebt davon, dass keine Instanz letztlich festlegt, was richtig ist und was nicht.
Bislang ist nur die Leugnung des größten Menschheitsverbrechens, des Holocaust, mit Strafen belegt. Das erkennen die meisten Juristen an, weil dessen Monstrosität nachdrücklich belegt ist. Mit dem neuen Gesetz wird die Einzigartigkeit des Judenmords relativiert. Gerade den Anhängern einer Neubewertung der KolonialismusVerbrechen ist das recht. Die wehren sich gegen die angebliche Einteilung in Opfer erster und zweiter Klasse. Doch der Judenmord ist deshalb einzigartig, weil die Dimension alles bisher Dagewesene gesprengt hat.
Die Bundesregierung verweist darauf, dass die neue Bestimmung lediglich europäisches Recht umsetzt. Doch die deutsche Vorschrift geht viel weiter, als das EU-Recht verlangt. Denn dort ist eine Strafe nur dann zulässig, wenn ein Gericht zuvor das Verbrechen gegen die Menschlichkeit festgestellt hat. Außerdem muss die Leugnung oder Verharmlosung öffentlich erfolgen. Nach deutschem Recht reicht der Hinweis, dass die Äußerung gefallen ist – etwa in einer geschlossenen Veranstaltung oder bei einer privaten Rede. Das öffnet Denunziantentum Tür und Tor.
Es ist deutsche Haltung, gute Meinungen und richtige Ansichten bisweilen brachial durchzusetzen und dabei auch Gruppen zu gefallen, die weltweit Unrecht anprangern. Allerdings hängt die Verurteilung dann davon ab, ob die jeweils betroffene Gruppe eine Lobby in Deutschland hat. Das gilt wohl eher für Palästinenser oder Opfer des Kolonialismus als etwa für die Uiguren in China oder Rohingya in Myanmar. Ein Kolonialismus-Leugner müsste möglicherweise eher hinter Gitter als ein ChinaVerharmloser. Also gäbe es doch Opfer erster und zweiter Klasse.
Die Aufarbeitung und Verfolgung von Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist eine wichtige Aufgabe, sowohl der Völkergemeinschaft als auch der einzelnen Rechtsstaaten. Aber es bestehen meist zu viele Unklarheiten und Unsicherheiten, um endgültig darüber zu urteilen, wie die verschiedenen Verbrechen zu bewerten sind. Auch politische Rücksichtnahmen und der Kampf um die Meinungshoheit dürften das Bild verzerren. Staatsrechtler Degenhart verweist zudem auf den Begriff des kulturellen Genozids. „Was zählt dazu, was nicht?“, fragt er. Eines ist klar: Die deutschen Staatsanwälte als Verfolgungsbehörde für alle weltweiten Gräueltaten hätten viel zu tun.
Es ist die Anmaßung einer Allzuständigkeit der deutschen Strafjustiz, die schnell zu allerhand Ausflüchten und Ausnahmen greifen müsste, um in dieser Herausforderung nicht unterzugehen. Dabei gibt es wirksamere Mittel, um solche Verbrechen anzuprangern. „Die Verurteilung des Völkermords in Armenien durch den Bundestag ist ein hinreichend starkes Signal“, findet Degenhart. Beim russischen Überfall auf die Ukraine reichen die Paragrafen zur Anstachelung und Billigung eines Angriffskriegs aus, um die Kriegspropaganda des Kreml in Deutschland zu verhindern. Die öffentliche Debatte unter Demokraten tut ein Übriges.
Der Bundesrat muss am 25. November über das Gesetz abstimmen. Er sollte es nicht einfach passieren lassen.
„Was rechtlich als Völkermord gilt, ist nicht eindeutig bestimmt“Christoph Degenhart Staatsrechtler