Das Kreuz mit dem Kreuz
ESSAY Das christliche Symbol im öffentlichen Raum sorgt immer wieder für Aufregung. In Münster entfernte man es zum G7-Treffen aus dem Friedenssaal. Eine Entscheidung aus Unkenntnis, aber ein sinnfälliger Beitrag in einer endlosen Aufregung.
Was für Zeiten waren das, als für das christliche Kreuz demonstriert wurde! Aber nicht als Protest, weil an einem öffentlichen Ort das Kruzifix abgehängt worden war, wie unlängst zum G7-Gipfel in Münster geschehen. Sondern weil das Bundesverfassungsgericht entschieden hatte, dass es keine „Pflicht“sei, Kruzifixe in Klassenräumen aufzuhängen. Dass das Gebot zum Kreuz höchstrichterlich in Deutschland gekippt wurde, erregte die gläubigen Gemüter vor allem in Bayern. Die Verlautbarungen dort klangen fast so bedrohlich wie mittelalterliche Kreuzzüge. Weil das Kreuz das Ursymbol von Toleranz und Nächstenliebe ist, wolle man das „Kruzifix und die christlichen Wurzeln unserer Heimat verteidigen, wo immer sie von Zeitgeist oder linken Ideologien angegriffen werden“, so 1995 CSU-Chef Theo Waigel.
Die Religionslandschaft hat sich gewandelt – das Symbol nicht. Allerdings änderte sich die Wahrnehmung auf die Institution Kirche, die im Zeichen des Kreuzes das Evangelium verkündet. Denn von froher Botschaft kann kaum noch die Rede sein, seitdem spätestens 2010 mit den Enthüllungen von sexualisierter Gewalt am CanisiusKolleg in Berlin die Ausmaße des Missbrauchsskandals in der Kirche öffentlich wurden. Es folgte ein umfassender Vertrauensverlust und eine bis heute anhaltende Austrittswelle. Inzwischen gehört nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung hierzulande einer der beiden christlichen Kirchen an. Zuletzt zählte man 21,8 Millionen Katholiken und 19,7 Millionen Protestanten.
Das sogenannte Kruzifix-Urteil war insofern die Vorwegnahme einer säkularen Entwicklung. Es war zudem eine Grundsatzentscheidung des Staates,
Religionsfreiheit zu gewähren und sich selbst – wohlgemerkt nur im öffentlichen Raum – der Neutralität zu verpflichten. Dass es dennoch Aufrufe gab, das Karlsruher Urteil gar nicht zu befolgen und somit ein Fundament unseres Rechtsstaates infrage zu stellen, weist auf die Kraft dieses Symbols hin.
Das ist das Kreuz mit dem Kreuz. Es ist das Zeichen für eine immer noch große Gemeinschaft, doch ist es auch ein persönliches Glaubensbekenntnis. Dieses antike Folterinstrument steht für den Tod, das Leiden Christi und die Erlösung. Es beschreibt unser Leben und Sterben und unsere Hoffnung auf Auferstehung. Das Kreuz ist darum auch weit mehr als eine Art „Wahlkampflogo“, wozu es Ministerpräsident Markus Söder 2018 degradierte, indem er in der Staatskanzlei öffentlichkeitswirksam ein Kreuz anbringen ließ. Es folgte Söders sogenannter Kreuzerlass. So heißt es in der Geschäftsordnung für die Behörden des Freistaates: „Im Eingangsbereich eines jeden Dienstgebäudes ist als Ausdruck der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns gut sichtbar ein Kreuz anzubringen.“Angesichts der Debatten um Kreuze in Schulen und Gerichtssälen klingen diese Worte wie Botschaften aus fernen Glaubenszeiten.
Jede Diskussion ums Kreuz hat ihren eigenen Kontext. So auch die jüngste Debatte in Münster. Dort, im alten Friedenssaal, trafen sich die G7-Außenminister, und um möglicherweise religiöse Gefühle einiger Teilnehmer nicht zu verletzen, wurde das aus dem Jahr 1540 stammende Kreuz abgehängt. Protokollarische Gründe wurden ins Feld geführt, und Gastgeberin Annalena Baerbock beeilte sich, die Entfernung hernach zu bedauern.
Denn die Kritik kam prompt, wenn auch in moderater, fast defensiver Form. So ließ das Bistum Münster verlauten, dass die Maßnahme nicht nachvollziehbar sei. Schließlich stünde gerade das Kreuz für Toleranz, Friedfertigkeit und Mitmenschlichkeit, für die Überwindung von Gewalt und Tod – und sei damit quasi auch das Symbol für das Zusammentreffen der Minister. Man mag über die Aussagen des Kreuzes unterschiedliche Ansichten haben, in diesem Raum aber fallen gegenteilige Deutungen schwer. Schließlich wurde in dem Saal 1648 der Westfälische Frieden geschlossen, der das 30-jährige Gemetzel im Zeichen der Religion auf europäischem Boden beendete.
Anderer Schauplatz, anderer Kontext: Im November 2016 reisten hochrangige Kirchenvertreter nach Israel – unter ihnen der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm und Kardinal Reinhard Marx. Bei ihrem Besuch von Tempelberg und Klagemauer trugen sie keine Amtskreuze, dies auf Bitten der jüdischen wie auch muslimischen Gastgeber. Zu ihrer christlichen Grundhaltung gehöre nicht, das Kreuz demonstrativ vorneweg zu tragen, hieß es damals. Die Sorge, damit Zwietracht zu säen, war groß.
Und kürzlich noch Berlin: Zum Wiederaufbau des Stadtschlosses gehörte auch das Kuppelkreuz. Ja? Nein? Werde damit der Triumph des Glaubens dokumentiert oder eine Staatskirche etabliert? Zweifelsohne ist dieses Kreuz aus dem Glaubenskontext herausgetreten, besonders mit seiner Inschrift, die Friedrich Wilhelm IV. nach Worten aus der Apostelgeschichte selbst verfasst haben soll: „Es ist kein ander Heil, es ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, denn der Name Jesu, zu Ehren des Vaters, daß im Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Kniee, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind.“
Das Kreuz bleibt diskutabel. War es immer schon und wird es künftig bleiben. Denn wie kraftvoll sein Gehalt bis heute ist, zeigt ganz besonders Münster: dass nämlich das Kreuz uns gegenwärtig bleibt, selbst wenn es zeitweilig verschwunden ist.
Im Friedenssaal zu Münster endete ein 30-jähriges Gemetzel im Zeichen der Religion