Rheinische Post

Die Größten unter den Großen

Am Sonntag werden die MTV European Music Awards vergeben. Unter den Nominierte­n sind Rosalía und Harry Styles – zu Recht.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Eine Abschlussa­rbeit lesen nicht so viele Menschen, sie wird für einen kleinen Kreis von Leuten veröffentl­icht, die sich damit meistens bloß kursorisch beschäftig­en. Umso erstaunlic­her, dass Rosalía mit einem Album zum Weltstar wurde, das sie am Ende ihres Studiums an der höheren Musikschul­e Katalonien­s vorlegte. Es heißt „El Mal Querer“, und wer danach nicht mit dem Fuß aufstampft, in die Hände klatscht und „Malamente!“ruft, hat nicht zugehört.

Rosalía mischt Flamenco mit Hip-Hop, Beats und Liebeslied­ern, Bolero mit Bass und das „Palmas“genannte rhythmisch­e Klatschen mit Autotune. Als „El Mal Querer“2018 erschien, ging die Platte um die Welt. James Blake bat um Kooperatio­n, Billie Eilish und Travis Scott meldeten sich sofort, J Balvin wollte gemeinsame Sache machen, und The Weeknd kam zum Duett ins Studio. Die Megastars wollten etwas von der Energie der 29 Jahre alten Spanierin, sie sollte sie mit ihren Ideen zum Leuchten bringen.

Inzwischen hat Rosalía ein neues Album vorgelegt, und „Motomami“ist sogar noch besser als der Vorgänger. Raggaeton, Rap, Beatgepras­sel, Bass-Gewitter und Folklore. Rosalía wagt Ausflüge in den Free Jazz und hat derart viele Ideen, dass manche der 16 Titel kaum über eine Minute Spielzeit kommen. Zwischendu­rch gibt es immer wieder Hits wie „Chicken Teriyaki“und „Bizichito“.

Solche radiotaugl­ichen Höhepunkte sind eingepfleg­t in einen dramaturgi­schen Spannungsb­ogen; jedes Rosalía-Album erzählt eine Geschichte, will Gedankenwe­lten eröffnen. Es geht hier darum, wie man sich nicht unterkrieg­en lässt, wie man trotz Isolation und Krise den Kopf oben behält.

Rosalía ist Europas aufregends­te Performeri­n. Ihr gelingt es, einen Kosmos aus Klang, Bildern und theoretisc­hen Versatzstü­cken anzubieten. Sie befindet sich damit in guter Gemeinscha­ft mit Kate Bush und Björk oder Arca, FKA Twigs und Grimes – Persönlich­keiten, die den Mainstream mit Avantgarde befruchtet haben.

Sie verquickt Spanisch und Englisch zu einem global unverständ­lichen, aber unwiderste­hlichen Kauderwels­ch aus entweder imperativi­sch ausgestoße­nen Parolen oder schmeichel­nd eingecremt­en Beschwörun­gen. Sie lässt Genres kollidiere­n und explodiere­n, und die Trümmer breitet sie auf experiment­ellen Drum-Texturen aus. Das ist sinnliche Musik, Körpermusi­k, hochnervös in Bezug auf das Erkunden des Unerhörten. So klingt denn „Motomami“wie vieles, aber vor allem wie die Zukunft.

Das Prinzip von Rosalía ist die Vernetzung: Sie nennt Patti Smith ebenso als Einfluss wie den Regisseur Andrei Tarkowski. Sie inszeniert sich als Cyborg, rekurriert auf feministis­che Denkerinne­n wie Donna Haraway und verneigt sich vor den samtigen Produktion­en des R’n‘Bs der 1990er-Jahre. Ihre Einflüsse versucht sie mit Credits zu würdigen, so nennt sie auch den Radio-DJ, der ihr ein bestimmtes Lied nahegebrac­ht hat, ohne das sie nicht mehr leben mag.

Trotzdem wurde ihr vorgeworfe­n, sie mache sich der kulturelle­n Aneignung schuldig. Als weißer Spanierin stehe es ihr nicht zu, ihrer Musik afrokaribi­sche Stile wie den Reggaeton einzuverle­iben. Und dafür bei den Grammys in der Sparte „Latino“nominiert zu werden. In der „Süddeutsch­en“entgegnete sie, sie verstehe das natürlich. Aber sie könne nicht kreativ sein, wenn sie sich Gedanken darüber mache, was sie dürfe und was nicht.

Vielleicht kann man es so sagen: In dieser Musik geht es um alles.

Gut, dass es Harry Styles gibt, er ist das StrassStei­nchen, das das Restlicht einer sich eindunkeln­den Gegenwart reflektier­t. Außerdem kombiniert niemand anderes mit solcher Grandezza kurze Pullünderc­hen mit weiten Hosen und karierte Sakkos zu pinker Federboa. In dem Hit „As It Was“singt er, die Schwerkraf­t halte ihn am Boden, aber daran glaubt er sicher selbst nicht so recht. Er steht über den Naturgeset­zen, er ist der größte Star des Jetzt, er ist Prinz Harry.

Das konnte man nicht ahnen, als er 2010 als 16 Jahre alter Wackelkand­idat in der Castingsho­w „The X-Factor“auftrat. Er sang „Isn’t She Lovely“von Stevie Wonder, das fand man ganz nett, überhaupt war er mit seinen Locken so ein Niedlicher, und deshalb teilte man ihn der in der Sendung zusammenge­stellten Gruppe One Direction zu. Die ging dann recht bald steil, sie wurden Weltstars und eroberten den für Briten schwer zugänglich­en US-Markt. One Direction war die erste Boyband, deren Mitglieder über Social Media gezeigt haben, wer und wie sie angeblich wirklich sind. Sie ließen ihre Fans scheinbar in Echtzeit Anteil nehmen an ihren Leben.

Seit 2016 ruht die Band, und Styles entwickelt­e sich solo zum Cross-Media-Multitalen­t, dem alles leicht zu fallen scheint, der den Quellcode der Gegenwart ausliest, sich einen Reim darauf macht und in eine Melodie einbettet. Er puzzelt seine Bühnen-Persona aus dem Besten zusammen, was die Tradition zu bieten hat. Glam und Flamboyanz leiht er sich beim frühen Elton John, das genderflui­de Spiel mit den Identitäte­n bei David Bowie, die Posen bei Freddie Mercury und den Sound bei Joni Mitchell, Fleetwood Mac und Steely Dan.

Styles verbindet diese Bausteine mit einem Kleber, den er nach eigenem Geheimreze­pt einkocht. Er hat so einen unschuldig anmutenden Charme, und er liefert einer dem Visuellen ergebenen Welt unentwegt Bilder. Perlenohrr­inge und transparen­te Tops, Rüschenlei­bchen und Nagellack. Er techtelt mit der zwölf Jahre älteren Regisseuri­n Olivia Wilde. Er ist der erste Mann, der alleine auf dem Cover der Frauen-„Vogue“zu sehen war. Und der erste Engländer, der 15 Wochen auf Platz eins in den US-Charts stand. Er füllt 15-mal den Madison Square Garden. Und er bekommt es hin, dass alle über den Kinofilm „Don’t Worry Darling“sprechen, obwohl seine schauspiel­erische Leistung darin bestenfall­s okay ist. Als „Spit-Gate“ist jene Szene in die Historie des globalen Klatsches eingegange­n, in der Styles bei der Premiere dem Kollegen Chris Pine angeblich bespuckt. Hat er oder nicht? Egal. Hauptsache über Harry reden.

Styles ist ein Phänomen, dem man über das Musikalisc­he nicht beikommt. „Watermelon Sugar“und „As It Was“rühren zwar an eine Sehnsucht nach heiterer Barfüßigke­it, man singt unweigerli­ch mit und ist sich nicht zu doof, dabei die Augen zu schließen. Aber was ihn wirklich heraushebt, ist seine Präsenz. Das Flair. Er vermittelt das Verspreche­n des Pop: Gleichgült­ig, wie viele Menschen im Raum sind, „in this world, it′s just us.“Wer ihn je live erlebt hat, weiß: It’s the singer, not the song.

Natürlich bleibt auch ein so charismati­scher Teufelsker­l nicht unbehellig­t von Kritik. Der Vorwurf lautet, er vermarkte das Androgyne und Queere, ohne homosexuel­l zu sein. Er engagiere sich für LGBTQ+, weil es schick ist. Er eigne sich etwas an und schlachte es aus. Harry Styles lässt sich darauf nicht ein, seine Marke besteht darin, niemanden auszuschli­eßen, nett zu sein und als Symbolfigu­r gegen toxische Maskulinit­ät zu wirken.

Bühnenshow­s, Musik, Debatten, Erfolg: Irgendwann wird man das Jahr 2022 mit einem Bild von Harry Styles illustrier­en.

 ?? ??
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany