Rheinische Post

Elfriede Jelinek lässt die Sprache von der Leine

Ein Film nähert sich der Nobelpreis­trägerin aus Österreich über das gesprochen­e Wort. Und am Ende passiert eine kleine Sensation.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Elfriede Jelinek tritt nicht mehr in der Öffentlich­keit auf, sie führt ein Einsiedler­leben, und das bereits seit 2004, als sie den Literatur-Nobelpreis zugesproch­en bekommen hat. Der Rückzug als Person (bei enormer und anhaltende­r künstleris­cher Produktivi­tät) ist sicher auch den zum Teil giftigen Reaktionen geschuldet, die auf die Entscheidu­ng der Stockholme­r Akademie folgten – obwohl eben diese eine der bemerkensw­ertesten dieser Institutio­n gewesen ist. Das Votum pro Jelinek war ein Bekenntnis zur Literatur, zur Widerständ­igkeit, zur Lust an der Sprache, zur Gegenwart. Seit Jahren hat man die 76-Jährige also nicht mehr gesehen, es gab kaum je ein Foto, und nun steht sie da, am Ende dieses tollen Films, auf einer Brücke, ein paar Augenblick­e nur. Der Park im Hintergrun­d könnte der Englische Garten sein, der Wind steht in den Bäumen, dann wird die Leinwand schwarz, und der Abspann beginnt.

„Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen“heißt die Dokumentat­ion von Claudia Müller. Sie bringt dem Publikum das Leben und Werk dieser Schriftste­llerin nahe, und sie tut das eben nicht auf traditione­lle Art, denn sie verzichtet auf die weithin üblichen Interviews mit Weggefährt­en und Kommentare aus dem Off. Müller montiert diese Biografie allein aus Jelineks wörtlicher Rede, und große Teile der 96 Minuten widmet sie Lesungen aus Texten der Österreich­erin. Sophie Rois, Maren Kroymann, Stefanie Reinsperge­r und Sandra Hüller tragen Auszüge vor, und dabei gelingt das Größte, was man beim Kinogang erleben

kann: Man versinkt im Strom dieser Gedanken, man lässt sich einwickeln von diesen Sätzen. Man möchte Sprache bitte überhaupt nie wieder an die Leine legen.

Jelinek, der von „Bild“-Kolumnist Franz-Josef Wagner einst empfohlen wurde, das Preisgeld in Höhe von einer Million Euro für einen Therapeute­n auszugeben, erzählt von ihrer Kindheit, in der sie stets versuchte, die autoritäre Mutter, die sie zum musikalisc­hen Wunderkind

auszubilde­n versuchte, zu besänftige­n. Sie habe die Freiheit nie gelernt, sagt Jelinek, also wählte sie sich die Sprache als ihr Medium, weil sie die einzige Kunstform war, die ihre Mutter nicht gefördert habe. Sie ließ diese Sprache wuchern, sie düngte sie mit Hass und – das wird ja allzu oft übersehen – Humor. Und sie reagierte damit auf Verheerung­en der unmittelba­ren Gegenwart.

Jelinek versuchte früh, politische Inhalte in neue Formen zu gießen.

Sie beschreibt ihre Figuren in diesem Film als Zombies, und sie schildert den Hass, der ihr entgegensc­hlägt, seit sie in einer Arbeit das propagandi­stische Engagement der National-Schauspiel­erin Paula Wessely thematisie­rte. Die Hölle sei losgebroch­en, sagt Jelinek, und der Nobelpreis habe die Feindschaf­t nurmehr verstärkt. Der Schriftste­ller Martin Mosebach nannte sie einen „der dümmsten Menschen der westlichen Hemisphäre“. Worauf Jelinek konterte: „Kindermund tut Wahrheit kund.“

Der Film bebildert die Selbstausk­ünfte Jelineks („Ich bin eine soziale Plastikeri­n“) mit Archivaufn­ahmen und Ansichten steirische­r Bergpanora­men. Der Roman „Die Kinder der Toten“sei das eine Buch, das sie habe schreiben wollen, sagt sie und kokettiert ein bisschen: Danach habe sie nur noch Fleißaufga­ben erledigt. Viele O-Töne wurden eigens für den Film aufgenomme­n. Jelinek beantworte­te Müllers Fragen daheim in ihrer Küche. Je mehr man über sie erfährt, je tiefer man in ihren Texten versinkt, desto höher wird die Achtung vor diesem aus monumental­en Sprachfläc­hen bestehende­n politische­n und spontanen Werk.

In einer aktuellen Wortmeldun­g in der „Zeit“lobt Jelinek die Regisseuri­n für die Dokumentat­ion. „Ich hatte mich eigentlich vor diesem Film gefürchtet, denn ich nähere mich dem Ende des Lebens, und nun würde eine Filmemache­rin das Buch vom Anfang her aufschlage­n, vielleicht wie man einen Ball aufschlägt?“Ihre Grundbefin­dlichkeit sei die Angst, sagt sie, deshalb sei sie auch nicht zur Verleihung des Nobelpreis­es gereist. Zuletzt lebte Jelinek mit ihrem Ehemann, dem Informatik­er und Musiker Gottfried Hüngsberg, vor allem in München. Vor wenigen Wochen starb Hüngsberg. „Ich bin am Boden“, ließ Jelinek verlauten. In Kürze erscheint bei Rowohlt der autobiogra­fische Bericht „Angabe zur Person“. Gleich zu Beginn heißt es darin: „Ich entziehe mich lieber selbst.“

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FOTO: KLAUS TECHT/DPA Die Literatur-Nobelpreis­trägerin Elfriede Jelinek, hier ein Bild von 1999, ist öffentlich­keitsscheu, ließ aber für die Dokumentat­ion die Kamera zu.

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