Elfriede Jelinek lässt die Sprache von der Leine
Ein Film nähert sich der Nobelpreisträgerin aus Österreich über das gesprochene Wort. Und am Ende passiert eine kleine Sensation.
Elfriede Jelinek tritt nicht mehr in der Öffentlichkeit auf, sie führt ein Einsiedlerleben, und das bereits seit 2004, als sie den Literatur-Nobelpreis zugesprochen bekommen hat. Der Rückzug als Person (bei enormer und anhaltender künstlerischer Produktivität) ist sicher auch den zum Teil giftigen Reaktionen geschuldet, die auf die Entscheidung der Stockholmer Akademie folgten – obwohl eben diese eine der bemerkenswertesten dieser Institution gewesen ist. Das Votum pro Jelinek war ein Bekenntnis zur Literatur, zur Widerständigkeit, zur Lust an der Sprache, zur Gegenwart. Seit Jahren hat man die 76-Jährige also nicht mehr gesehen, es gab kaum je ein Foto, und nun steht sie da, am Ende dieses tollen Films, auf einer Brücke, ein paar Augenblicke nur. Der Park im Hintergrund könnte der Englische Garten sein, der Wind steht in den Bäumen, dann wird die Leinwand schwarz, und der Abspann beginnt.
„Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen“heißt die Dokumentation von Claudia Müller. Sie bringt dem Publikum das Leben und Werk dieser Schriftstellerin nahe, und sie tut das eben nicht auf traditionelle Art, denn sie verzichtet auf die weithin üblichen Interviews mit Weggefährten und Kommentare aus dem Off. Müller montiert diese Biografie allein aus Jelineks wörtlicher Rede, und große Teile der 96 Minuten widmet sie Lesungen aus Texten der Österreicherin. Sophie Rois, Maren Kroymann, Stefanie Reinsperger und Sandra Hüller tragen Auszüge vor, und dabei gelingt das Größte, was man beim Kinogang erleben
kann: Man versinkt im Strom dieser Gedanken, man lässt sich einwickeln von diesen Sätzen. Man möchte Sprache bitte überhaupt nie wieder an die Leine legen.
Jelinek, der von „Bild“-Kolumnist Franz-Josef Wagner einst empfohlen wurde, das Preisgeld in Höhe von einer Million Euro für einen Therapeuten auszugeben, erzählt von ihrer Kindheit, in der sie stets versuchte, die autoritäre Mutter, die sie zum musikalischen Wunderkind
auszubilden versuchte, zu besänftigen. Sie habe die Freiheit nie gelernt, sagt Jelinek, also wählte sie sich die Sprache als ihr Medium, weil sie die einzige Kunstform war, die ihre Mutter nicht gefördert habe. Sie ließ diese Sprache wuchern, sie düngte sie mit Hass und – das wird ja allzu oft übersehen – Humor. Und sie reagierte damit auf Verheerungen der unmittelbaren Gegenwart.
Jelinek versuchte früh, politische Inhalte in neue Formen zu gießen.
Sie beschreibt ihre Figuren in diesem Film als Zombies, und sie schildert den Hass, der ihr entgegenschlägt, seit sie in einer Arbeit das propagandistische Engagement der National-Schauspielerin Paula Wessely thematisierte. Die Hölle sei losgebrochen, sagt Jelinek, und der Nobelpreis habe die Feindschaft nurmehr verstärkt. Der Schriftsteller Martin Mosebach nannte sie einen „der dümmsten Menschen der westlichen Hemisphäre“. Worauf Jelinek konterte: „Kindermund tut Wahrheit kund.“
Der Film bebildert die Selbstauskünfte Jelineks („Ich bin eine soziale Plastikerin“) mit Archivaufnahmen und Ansichten steirischer Bergpanoramen. Der Roman „Die Kinder der Toten“sei das eine Buch, das sie habe schreiben wollen, sagt sie und kokettiert ein bisschen: Danach habe sie nur noch Fleißaufgaben erledigt. Viele O-Töne wurden eigens für den Film aufgenommen. Jelinek beantwortete Müllers Fragen daheim in ihrer Küche. Je mehr man über sie erfährt, je tiefer man in ihren Texten versinkt, desto höher wird die Achtung vor diesem aus monumentalen Sprachflächen bestehenden politischen und spontanen Werk.
In einer aktuellen Wortmeldung in der „Zeit“lobt Jelinek die Regisseurin für die Dokumentation. „Ich hatte mich eigentlich vor diesem Film gefürchtet, denn ich nähere mich dem Ende des Lebens, und nun würde eine Filmemacherin das Buch vom Anfang her aufschlagen, vielleicht wie man einen Ball aufschlägt?“Ihre Grundbefindlichkeit sei die Angst, sagt sie, deshalb sei sie auch nicht zur Verleihung des Nobelpreises gereist. Zuletzt lebte Jelinek mit ihrem Ehemann, dem Informatiker und Musiker Gottfried Hüngsberg, vor allem in München. Vor wenigen Wochen starb Hüngsberg. „Ich bin am Boden“, ließ Jelinek verlauten. In Kürze erscheint bei Rowohlt der autobiografische Bericht „Angabe zur Person“. Gleich zu Beginn heißt es darin: „Ich entziehe mich lieber selbst.“