Ein Traum von einem Kleid
Lesley Manville brilliert als Mrs. Harris in einer warmherzigen Komödie um eine Londoner Putzfrau, die sich in den 1950ern in Paris ein Designerstück kaufen will.
(kna) Lesley Manville ist eine Spätzünderin: eine Schauspielerin, deren Karriere in einem Alter, in dem viele ihrer Berufskolleginnen ihre Laufbahn beenden, erst richtig in Fahrt kommt. Die Engländerin ist seit Ende der 1970er-Jahre zwar regelmäßig auf den großen Bühnen Londons und in britischen Fernsehserien anzutreffen. International bekannt wurde Manville aber erst 2017 durch die Oscarnominierung als beste Nebendarstellerin in „Der seidene Faden“. In „Mrs. Harris und ein Kleid von Dior“von Anthony Fabian ist die Engländerin nun zum ersten Mal in der Hauptrolle eines abendfüllenden Spielfilms zu sehen – und sie brilliert. Denn die berührende Warmherzigkeit, die gesunde Neugierde und die lebenserfahrene Bodenständigkeit, mit der sie die Rolle der bescheidenen Putzfrau Ada Harris ausstattet, wirken selbst da überzeugend, wo es nicht selbstverständlich ist: in der versnobten Welt der Reichen und Schönen.
Der Film beginnt im London der 1950er-Jahre. Ada arbeitet als Putzund Haushaltshilfe in der Londoner Upperclass. Als sie erfährt, dass ihr als verschollen gemeldeter Ehemann im Zweiten Weltkrieg gefallen ist, beschließt sie, sich selber zu retten. Indem sie sich gönnt, was sie sich bisher verwehrte: ein teures Designerkleid. Genauer: das eine traumhaft schöne Abendkleid von Dior, das sie bei einer ihrer Kundinnen im Schlafzimmer sah. Dass besagtes Kleid 500 Pfund kostet (das wären heute etwa 12.000 Pfund), steht anderswo geschrieben. Mit etwas Glück, Chuzpe und der beherzten Unterstützung ihrer Freunde bringt Ada den nötigen Betrag zusammen. Und steigt dann tatsächlich ins Flugzeug nach Paris. Als sie endlich vor dem Haus Dior steht, trifft dort gerade die zur Präsentation der neuen Kollektion geladene Gästeschar ein. Dior-Direktorin Claudine Colbert höchstpersönlich verwehrt Ada schnippisch den Zutritt. Der Vorfall bleibt allerdings nicht unbeobachtet. Der angesehene Marquis de Chassagne bittet Ada Harris daraufhin kurzerhand, ihn zu begleiten, und verhilft ihr somit zum Eintritt in die heiligen Hallen.
„Mrs. Harris und ein Kleid von Dior“beruht auf einem 1958 erschienenen Roman von Paul Gallico. Was die Geschichte um Ada Harris außergewöhnlich und ein bisschen märchenhaft erscheinen lässt, ist die Tatsache, dass Ada Harris nie nach Höherem strebt und auch nicht aus ihrem Leben auszubrechen versucht, obwohl sich dazu Gelegenheit bietet. Sie macht bloß einen Ausflug in diese für sie andere Welt. Sie scheut sich nicht, Dinge zu bemängeln, die in ihren Augen Missstände sind: lausige Arbeitsbedingungen, Misswirtschaft, mutwillige Entlassungen, die Arroganz gegenüber Mittel- und Unterschicht, die man eventuell auch als Käuferschaft gewinnen könnte. Ada überzeugt mit ihrer pragmatischen Hartnäckigkeit, bringt die Näherinnen zum Streiken, überzeugt Dior, dass Modernisierung sein Geschäft retten könnte, und bestärkt Supermodel Natascha darin, ihr Studium weiterzuführen. Sie erscheint bisweilen wie eine gute Fee.
„Mrs. Harris und ein Kleid von Dior“ist mit viel Liebe für Details inszeniert. Farbgebung, Beleuchtung und ein geruhsames Erzähltempo verpassen dem Film einen fast schon gemütlichen 1950er-JahreTouch. Die detailgetreu rekonstruierten Dior-Kostüme dürften nicht nur Mode-Affine begeistern.
Mrs. Harris und ein Kleid von Dior, Großbritannien/Ungarn 2022 – Regie: Anthony Fabian; mit Lesley Manville, Isabelle Huppert, Jason Isaacs, Rose Williams; 115 Minuten