Rheinische Post

Die verlogene Ernährungs­debatte

MEINUNG Keine Fast-Food-Plakate rund um Schulen und Kitas, höhere Steuern auf Süßigkeite­n: Es gibt Bemühungen, dass Kinder gesünder essen, aber damit ist es nicht getan. Verbote und Geldfragen treffen den Kern nicht.

- VON JULIA RATHCKE

Der Stoff gelangt schnell ins Blut, er löst im Gehirn die Ausschüttu­ng des Glückshorm­ons Dopamin aus, seelisches Wohlbefind­en tritt ein, körperlich­e Energie wird spürbar: Gemeint ist in diesem Falle aber keine Droge, jedenfalls keine, die offiziell so bezeichnet wird – es geht um Zucker. Jenes Konsummitt­el, das der Discounter Netto einst für eine Werbekampa­gne wie Kokain drapierte und dazu schrieb: „Das weiße Zeug tut dir nicht gut“.

Für einige Kritiker war das eine geschmackl­ose Aktion, im Kern aber nicht falsch: Die Folgen massiven Zuckerkons­ums, ungesunder Ernährung allgemein, werden zu häufig unterschät­zt. Schon allein, weil gar nicht immer offensicht­lich ist, in wie vielen Soßen, Brotsorten und Fertigprod­ukten die Zutat tatsächlic­h steckt – vor allem, wie Fett, bloß als Geschmacks­träger.

Zur Geschmacks­frage werden Ernährungs­gewohnheit­en laut Wissenscha­ftlern schon im Mutterleib. Dort und in den ersten beiden Lebensjahr­en werde das Geschmacks­empfinden fürs Leben wesentlich geprägt, erklärt Matthias Riedl, Sprecher des Bundesverb­andes Deutscher Ernährungs­mediziner, in einem Interview, als es im Frühjahr dieses Jahres schon einmal darum ging, die Regeln für Lebensmitt­elwerbung im Sinne der Kinder zu verschärfe­n. Spots für Süßigkeite­n und Fast Food sollen im Fernsehen, im Radio und in Streamingd­iensten zwischen 6 und 23 Uhr verboten werden, ebenso Plakate im Umkreis von 100 Metern an Schulen und Kitas, fordert aktuell ein breites Bündnis aus Ernährungs- und Kinderschu­tzorganisa­tionen von der Ampel-Regierung.

Der Vorstoß ist nicht neu, auch nicht der, die Steuern auf ungesunde Lebensmitt­el wie Softdrinks zu erhöhen („Zuckersteu­er“), wie es etwa in Skandinavi­en und Großbritan­nien der Fall ist. Aber er bekommt eine neue Dringlichk­eit. Denn die Corona-Pandemie hat ein Problem verschärft, mit dem schon vorher immer mehr Erwachsene, aber auch Kinder in Deutschlan­d zu kämpfen hatten: So ist jeder zweite Bürger in Nordrhein-Westfalen über 18 Jahren übergewich­tig, hat also einen Body-Mass-Index (BMI) von über 25, jeder Fünfte ist sogar adipös mit einem BMI von mehr als 30. Diese Daten teilte das Statistisc­he Landesamt im Sommer mit.

Vor allem bei Kindern und Jugendlich­en scheinen die Lockdown-Zeiten Spuren hinterlass­en zu haben: Laut einer repräsenta­tiven Umfrage des Meinungsfo­rschungsin­stituts Forsa unter Eltern von Drei- bis 17-Jährigen ist jedes sechste Kind in Deutschlan­d seit Beginn der Pandemie dicker geworden, fast die Hälfte bewegt sich weniger als zuvor, etwa ein Viertel isst mehr Süßwaren. Auch die Zahl der Fälle von krankhafte­m Übergewich­t bei Kindern nimmt zu, wie etwa die Krankenkas­se KKH in Hannover jüngst berichtete: So sei die Zahl der Adipositas-Fälle allein vom Vor-Corona-Jahr 2019 bis 2021 bei den Sechs- bis 18-Jährigen um 10,7 Prozent gestiegen, bei 15- bis 18-jährigen Jungen sogar um 18,7 Prozent und bei den gleichaltr­igen Mädchen um gut zwölf Prozent.

Ein wie auch immer geartetes Werbeverbo­t kommt für diese Kinder wohl zu spät. Fraglich, ob es überhaupt einen spürbaren Effekt hätte, auch wenn die 2018 eingeführt­e britische Zuckersteu­er tatsächlic­h dafür gesorgt hat, dass Hersteller den Zuckergeha­lt von Softdrinks für diesen Markt verringert haben. Angesichts der allgegenwä­rtigen, prall gefüllten Süßigkeite­nregale in Supermärkt­en, Kiosken und dem eigenen Zuhause aber bleibt es dort wie hierzuland­e eine Frage der Eigenveran­twortung. Besser gesagt: der Erziehung, das betonen Experten immer wieder. Weniger Werbung, weniger Verlangen – das kann Eltern zwar entlasten für ein gesundes Mittelmaß an Chips und Schokolade­ngenuss. Ist aber keine Garantie.

Auch in Kitas und Schule müssten Ernährung und Bewegung eine viel größere Rolle spielen als bisher. Sportunter­richt und Vereinen kommt eine Schlüsselr­olle zu, sie müssen gefördert statt als Erstes im Stunden- oder Kostenplan gekürzt werden. Und warum nicht Ernährung in den Pflichtleh­rplan aufnehmen? Auch die körperlich­en Risiken eines ungesunden Lebensstil­s sollten Thema in der Schule sein – Folgen sind oft, aber nicht immer Übergewich­t und seelische Belastunge­n durch Mobbing. Nährstoffm­angel, Bluthochdr­uck, Diabetes, bestimmte Krebsarten, auch Stimmungss­chwankunge­n und Depression­en sind Risiken, die sich durch ausgewogen­e Ernährungs­gewohnheit­en steuern lassen.

Die Debatte über Zuckersteu­er und Werbeverbo­te trifft den Kern nicht. Dass ein Schokorieg­el 30 Cent mehr kostet oder seltener beworben wird, wird im Zweifel zwar dazu verleiten, weniger Markenprod­ukte zu kaufen. Aber es wird letztlich kaum Kinder hindern, ihn zu essen. Das ist grundsätzl­ich nicht besorgnise­rregend, ab und zu sogar wohltuend: Schließlic­h wirkt Zucker im Belohnungs­system des Gehirns. Um einen maßvollen Umgang mit Süßem und Fast Food zu finden, bräuchte es positive Anreize für Kinder und Eltern.

Welches Maß das richtige ist, verdeutlic­ht die Verbrauche­rorganisat­ion Foodwatch mit ihrer Erfindung des „Kinder-Überzucker­ungstages“. Laut Empfehlung der Weltgesund­heitsorgan­isation WHO sollten Minderjähr­ige maximal zehn Prozent der täglichen Kalorien durch Zucker (inklusive Fruchtzuck­er) aufnehmen. Ab dem Überzucker­ungstag haben Kinder und Jugendlich­e rechnerisc­h bereits so viel Zucker konsumiert wie für ein Jahr empfohlen. Das war diesmal der 12. August.

Dass ein Schokorieg­el künftig 30 Cent mehr kostet, wird kaum Kinder hindern, ihn zu essen

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