Die verlogene Ernährungsdebatte
MEINUNG Keine Fast-Food-Plakate rund um Schulen und Kitas, höhere Steuern auf Süßigkeiten: Es gibt Bemühungen, dass Kinder gesünder essen, aber damit ist es nicht getan. Verbote und Geldfragen treffen den Kern nicht.
Der Stoff gelangt schnell ins Blut, er löst im Gehirn die Ausschüttung des Glückshormons Dopamin aus, seelisches Wohlbefinden tritt ein, körperliche Energie wird spürbar: Gemeint ist in diesem Falle aber keine Droge, jedenfalls keine, die offiziell so bezeichnet wird – es geht um Zucker. Jenes Konsummittel, das der Discounter Netto einst für eine Werbekampagne wie Kokain drapierte und dazu schrieb: „Das weiße Zeug tut dir nicht gut“.
Für einige Kritiker war das eine geschmacklose Aktion, im Kern aber nicht falsch: Die Folgen massiven Zuckerkonsums, ungesunder Ernährung allgemein, werden zu häufig unterschätzt. Schon allein, weil gar nicht immer offensichtlich ist, in wie vielen Soßen, Brotsorten und Fertigprodukten die Zutat tatsächlich steckt – vor allem, wie Fett, bloß als Geschmacksträger.
Zur Geschmacksfrage werden Ernährungsgewohnheiten laut Wissenschaftlern schon im Mutterleib. Dort und in den ersten beiden Lebensjahren werde das Geschmacksempfinden fürs Leben wesentlich geprägt, erklärt Matthias Riedl, Sprecher des Bundesverbandes Deutscher Ernährungsmediziner, in einem Interview, als es im Frühjahr dieses Jahres schon einmal darum ging, die Regeln für Lebensmittelwerbung im Sinne der Kinder zu verschärfen. Spots für Süßigkeiten und Fast Food sollen im Fernsehen, im Radio und in Streamingdiensten zwischen 6 und 23 Uhr verboten werden, ebenso Plakate im Umkreis von 100 Metern an Schulen und Kitas, fordert aktuell ein breites Bündnis aus Ernährungs- und Kinderschutzorganisationen von der Ampel-Regierung.
Der Vorstoß ist nicht neu, auch nicht der, die Steuern auf ungesunde Lebensmittel wie Softdrinks zu erhöhen („Zuckersteuer“), wie es etwa in Skandinavien und Großbritannien der Fall ist. Aber er bekommt eine neue Dringlichkeit. Denn die Corona-Pandemie hat ein Problem verschärft, mit dem schon vorher immer mehr Erwachsene, aber auch Kinder in Deutschland zu kämpfen hatten: So ist jeder zweite Bürger in Nordrhein-Westfalen über 18 Jahren übergewichtig, hat also einen Body-Mass-Index (BMI) von über 25, jeder Fünfte ist sogar adipös mit einem BMI von mehr als 30. Diese Daten teilte das Statistische Landesamt im Sommer mit.
Vor allem bei Kindern und Jugendlichen scheinen die Lockdown-Zeiten Spuren hinterlassen zu haben: Laut einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa unter Eltern von Drei- bis 17-Jährigen ist jedes sechste Kind in Deutschland seit Beginn der Pandemie dicker geworden, fast die Hälfte bewegt sich weniger als zuvor, etwa ein Viertel isst mehr Süßwaren. Auch die Zahl der Fälle von krankhaftem Übergewicht bei Kindern nimmt zu, wie etwa die Krankenkasse KKH in Hannover jüngst berichtete: So sei die Zahl der Adipositas-Fälle allein vom Vor-Corona-Jahr 2019 bis 2021 bei den Sechs- bis 18-Jährigen um 10,7 Prozent gestiegen, bei 15- bis 18-jährigen Jungen sogar um 18,7 Prozent und bei den gleichaltrigen Mädchen um gut zwölf Prozent.
Ein wie auch immer geartetes Werbeverbot kommt für diese Kinder wohl zu spät. Fraglich, ob es überhaupt einen spürbaren Effekt hätte, auch wenn die 2018 eingeführte britische Zuckersteuer tatsächlich dafür gesorgt hat, dass Hersteller den Zuckergehalt von Softdrinks für diesen Markt verringert haben. Angesichts der allgegenwärtigen, prall gefüllten Süßigkeitenregale in Supermärkten, Kiosken und dem eigenen Zuhause aber bleibt es dort wie hierzulande eine Frage der Eigenverantwortung. Besser gesagt: der Erziehung, das betonen Experten immer wieder. Weniger Werbung, weniger Verlangen – das kann Eltern zwar entlasten für ein gesundes Mittelmaß an Chips und Schokoladengenuss. Ist aber keine Garantie.
Auch in Kitas und Schule müssten Ernährung und Bewegung eine viel größere Rolle spielen als bisher. Sportunterricht und Vereinen kommt eine Schlüsselrolle zu, sie müssen gefördert statt als Erstes im Stunden- oder Kostenplan gekürzt werden. Und warum nicht Ernährung in den Pflichtlehrplan aufnehmen? Auch die körperlichen Risiken eines ungesunden Lebensstils sollten Thema in der Schule sein – Folgen sind oft, aber nicht immer Übergewicht und seelische Belastungen durch Mobbing. Nährstoffmangel, Bluthochdruck, Diabetes, bestimmte Krebsarten, auch Stimmungsschwankungen und Depressionen sind Risiken, die sich durch ausgewogene Ernährungsgewohnheiten steuern lassen.
Die Debatte über Zuckersteuer und Werbeverbote trifft den Kern nicht. Dass ein Schokoriegel 30 Cent mehr kostet oder seltener beworben wird, wird im Zweifel zwar dazu verleiten, weniger Markenprodukte zu kaufen. Aber es wird letztlich kaum Kinder hindern, ihn zu essen. Das ist grundsätzlich nicht besorgniserregend, ab und zu sogar wohltuend: Schließlich wirkt Zucker im Belohnungssystem des Gehirns. Um einen maßvollen Umgang mit Süßem und Fast Food zu finden, bräuchte es positive Anreize für Kinder und Eltern.
Welches Maß das richtige ist, verdeutlicht die Verbraucherorganisation Foodwatch mit ihrer Erfindung des „Kinder-Überzuckerungstages“. Laut Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation WHO sollten Minderjährige maximal zehn Prozent der täglichen Kalorien durch Zucker (inklusive Fruchtzucker) aufnehmen. Ab dem Überzuckerungstag haben Kinder und Jugendliche rechnerisch bereits so viel Zucker konsumiert wie für ein Jahr empfohlen. Das war diesmal der 12. August.
Dass ein Schokoriegel künftig 30 Cent mehr kostet, wird kaum Kinder hindern, ihn zu essen