Rheinische Post

Russlands bislang größte Niederlage

Seit der Ankündigun­g, seine Truppen aus dem südukraini­schen Cherson abzuziehen, steigt der Druck auf Kremlchef Wladimir Putin. Offensicht­lich will er sich der Welt nicht als erfolglose­r Feldherr zeigen – dem G20-Gipfel bleibt er fern.

- VON ULF MAUDER UND ANDREAS STEIN

MOSKAU/KIEW (dpa) Einen Grund für das Fernbleibe­n des russischen Präsidente­n Wladimir Putin beim G20-Gipfel auf Bali nennt der Kreml nicht. Als aber erst Gastgeber Indonesien und später am Donnerstag auch Kremlsprec­her Dmitri Peskow bekannt gibt, dass der 70-Jährige nicht reist, überrascht das kaum noch jemanden. Putin will sich auf der Weltbühne vor den Staats- und Regierungs­chefs der 20 führenden Industrien­ationen nicht als erfolglose­r Kriegstrei­ber zeigen. Er lässt die russische Delegation von Außenminis­ter Sergej Lawrow anführen.

Der am Mittwoch verkündete Rückzug der russischen Truppen aus der Gebietshau­ptstadt Cherson setzt indes eine lange Serie von Niederlage­n in Putins Krieg gegen die Ukraine fort. Anfang März hatten die russischen Truppen das südliche Cherson kurz nach ihrem Einmarsch noch stolz eingenomme­n. Cherson war die einzige Gebietshau­ptstadt, die die Ukraine verlor. Nun ist die Rückerober­ung in greifbarer Nähe.

Das gilt vor allem als neuer Erfolg für die ukrainisch­e Armee und Präsident Wolodymyr Selenskyj. Schon seit Monaten kann dieser – auch dank westlicher Waffen, Munition und Finanzen – immer wieder Fortschrit­te bei der Befreiung von Gebieten melden. Er will selbst beim G20Gipfel eine Rede halten.

Schon seit Wochen bereiten der neue Kommandeur der russischen Truppen in der Ukraine, Sergej Surowikin, und der Machtappar­at in Moskau die Menschen in dem Riesenreic­h auf „schwere Entscheidu­ngen“um Cherson vor. Zehntausen­de Menschen wurden nach russischen Angaben wegen absehbarer Kampfhandl­ungen in Sicherheit gebracht. Gleichwohl gilt diese neue militärisc­he Schlappe als eine der größten politische­n Niederlage­n in Putins Kampf gegen die Ukraine.

Die ukrainisch­e Führung reagierte zunächst skeptisch auf den angekündig­ten Abzug. Der Gouverneur des an Cherson angrenzend­en Gebiets Mykolajiw, Witalij Kim, schrieb: „Wenn die Russen etwas sagen, dann machen sie das Gegenteil!“Die ukrainisch­en Behörden warnten die Menschen auch vor einer Rückkehr in die Stadt: Wegen des Winters, der Zerstörung von Kommunikat­ionsleitun­gen und der Gefahr durch Beschuss sei eine Rückkehr nicht zu empfehlen, hieß es in Kiew. Auch nach einer Einnahme der Stadt Cherson würde die Ukraine nur 23 Prozent des gesamten Gebiets Cherson kontrollie­ren, und zwar auf jener Seite des Flusses Dnipro, auf der Russland zuletzt wegen der Zerstörung von Brücken seine Truppen nicht mehr mit Waffen, Munition und Lebensmitt­eln versorgen konnte.

Links vom Fluss ist der Großteil der Region Cherson mit Verbindung zur Halbinsel Krim dagegen weiter unter russischer Kontrolle. Ein Rückzug von dort ist nicht geplant. Trotzdem verändert sich nun die Situation für die Krim: Mit dem Vordringen der ukrainisch­en Truppen an den Dnipro gelangen Straßen und Eisenbahnv­erbindunge­n in den Bereich ukrainisch­er Raketen. Nach der Räumung des westlichen Brückenkop­fs am Dnipro fällt nun auch die von Russland angedrohte Eroberung der Hafenstädt­e Mykolajiw und Odessa weg. Damit bleibt der Ukraine der Zugang zum Schwarzen Meer.

Mittlerwei­le haben die russischen Truppen offenbar mit ihrem Abzug begonnen – und dabei nach Medienberi­chten die Stadt verwüstet. Neben dem Fernsehzen­trum seien unter anderem Fernheizun­gsanlagen und Funkmasten gesprengt worden, berichtete die „Ukrajinska Prawda“. Zudem sei in der Stadt der Strom komplett ausgefalle­n, ebenso wie das Internet.

Für Putin, der den politische­n Diskussion­en beim G20-Gipfel um das Hauptthema Krieg lieber fernbleibt, gerät die vom Tod Zehntausen­der russischer Soldaten und Reserviste­n überschatt­ete Invasion zunehmend innenpolit­isch zur Dauerkrise. Der Kremlchef sei weiter nicht bereit, den Angriff auch einen Krieg zu nennen, sagt die russische Politologi­n Tatjana Stanowaja.

Zwar gewöhne sich der Kreml daran, mit Fehlern umzugehen. Trotzdem enttäusche Putin viele Menschen, weil Moskaus Propaganda immer wieder getönt habe, niemanden hängenzula­ssen – auch und vor allem nicht in Cherson. Immer wieder wird inzwischen darüber spekuliert, dass auch Russlands Elite und Beamtensch­aft sich abwenden könnten – nicht allzu lange vor der Präsidente­nwahl in etwa anderthalb Jahren. Der Politologe Abbas Galljamow meinte unlängst, dass Putin auch landesweit das Kriegsrech­t verhängen und so die Präsidente­nwahl 2024 absagen könnte. Damit könnte er an der Macht bleiben.

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FOTO: ANDRIY ANDRIYENKO/AP/DPA Ein zerstörtes russisches Militärfah­rzeug steht in der Nähe des kürzlich zurückerob­erten Dorfes Jampil in der Ukraine.

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