Russlands bislang größte Niederlage
Seit der Ankündigung, seine Truppen aus dem südukrainischen Cherson abzuziehen, steigt der Druck auf Kremlchef Wladimir Putin. Offensichtlich will er sich der Welt nicht als erfolgloser Feldherr zeigen – dem G20-Gipfel bleibt er fern.
MOSKAU/KIEW (dpa) Einen Grund für das Fernbleiben des russischen Präsidenten Wladimir Putin beim G20-Gipfel auf Bali nennt der Kreml nicht. Als aber erst Gastgeber Indonesien und später am Donnerstag auch Kremlsprecher Dmitri Peskow bekannt gibt, dass der 70-Jährige nicht reist, überrascht das kaum noch jemanden. Putin will sich auf der Weltbühne vor den Staats- und Regierungschefs der 20 führenden Industrienationen nicht als erfolgloser Kriegstreiber zeigen. Er lässt die russische Delegation von Außenminister Sergej Lawrow anführen.
Der am Mittwoch verkündete Rückzug der russischen Truppen aus der Gebietshauptstadt Cherson setzt indes eine lange Serie von Niederlagen in Putins Krieg gegen die Ukraine fort. Anfang März hatten die russischen Truppen das südliche Cherson kurz nach ihrem Einmarsch noch stolz eingenommen. Cherson war die einzige Gebietshauptstadt, die die Ukraine verlor. Nun ist die Rückeroberung in greifbarer Nähe.
Das gilt vor allem als neuer Erfolg für die ukrainische Armee und Präsident Wolodymyr Selenskyj. Schon seit Monaten kann dieser – auch dank westlicher Waffen, Munition und Finanzen – immer wieder Fortschritte bei der Befreiung von Gebieten melden. Er will selbst beim G20Gipfel eine Rede halten.
Schon seit Wochen bereiten der neue Kommandeur der russischen Truppen in der Ukraine, Sergej Surowikin, und der Machtapparat in Moskau die Menschen in dem Riesenreich auf „schwere Entscheidungen“um Cherson vor. Zehntausende Menschen wurden nach russischen Angaben wegen absehbarer Kampfhandlungen in Sicherheit gebracht. Gleichwohl gilt diese neue militärische Schlappe als eine der größten politischen Niederlagen in Putins Kampf gegen die Ukraine.
Die ukrainische Führung reagierte zunächst skeptisch auf den angekündigten Abzug. Der Gouverneur des an Cherson angrenzenden Gebiets Mykolajiw, Witalij Kim, schrieb: „Wenn die Russen etwas sagen, dann machen sie das Gegenteil!“Die ukrainischen Behörden warnten die Menschen auch vor einer Rückkehr in die Stadt: Wegen des Winters, der Zerstörung von Kommunikationsleitungen und der Gefahr durch Beschuss sei eine Rückkehr nicht zu empfehlen, hieß es in Kiew. Auch nach einer Einnahme der Stadt Cherson würde die Ukraine nur 23 Prozent des gesamten Gebiets Cherson kontrollieren, und zwar auf jener Seite des Flusses Dnipro, auf der Russland zuletzt wegen der Zerstörung von Brücken seine Truppen nicht mehr mit Waffen, Munition und Lebensmitteln versorgen konnte.
Links vom Fluss ist der Großteil der Region Cherson mit Verbindung zur Halbinsel Krim dagegen weiter unter russischer Kontrolle. Ein Rückzug von dort ist nicht geplant. Trotzdem verändert sich nun die Situation für die Krim: Mit dem Vordringen der ukrainischen Truppen an den Dnipro gelangen Straßen und Eisenbahnverbindungen in den Bereich ukrainischer Raketen. Nach der Räumung des westlichen Brückenkopfs am Dnipro fällt nun auch die von Russland angedrohte Eroberung der Hafenstädte Mykolajiw und Odessa weg. Damit bleibt der Ukraine der Zugang zum Schwarzen Meer.
Mittlerweile haben die russischen Truppen offenbar mit ihrem Abzug begonnen – und dabei nach Medienberichten die Stadt verwüstet. Neben dem Fernsehzentrum seien unter anderem Fernheizungsanlagen und Funkmasten gesprengt worden, berichtete die „Ukrajinska Prawda“. Zudem sei in der Stadt der Strom komplett ausgefallen, ebenso wie das Internet.
Für Putin, der den politischen Diskussionen beim G20-Gipfel um das Hauptthema Krieg lieber fernbleibt, gerät die vom Tod Zehntausender russischer Soldaten und Reservisten überschattete Invasion zunehmend innenpolitisch zur Dauerkrise. Der Kremlchef sei weiter nicht bereit, den Angriff auch einen Krieg zu nennen, sagt die russische Politologin Tatjana Stanowaja.
Zwar gewöhne sich der Kreml daran, mit Fehlern umzugehen. Trotzdem enttäusche Putin viele Menschen, weil Moskaus Propaganda immer wieder getönt habe, niemanden hängenzulassen – auch und vor allem nicht in Cherson. Immer wieder wird inzwischen darüber spekuliert, dass auch Russlands Elite und Beamtenschaft sich abwenden könnten – nicht allzu lange vor der Präsidentenwahl in etwa anderthalb Jahren. Der Politologe Abbas Galljamow meinte unlängst, dass Putin auch landesweit das Kriegsrecht verhängen und so die Präsidentenwahl 2024 absagen könnte. Damit könnte er an der Macht bleiben.