Rheinische Post

Emotionale Debatte über das Bürgergeld

Die Sozialrefo­rm der Ampelkoali­tion nimmt im Bundestag die erste Hürde. Die Union bleibt bei ihrer Blockadeha­ltung.

- VON BIRGIT MARSCHALL

BERLIN Für Opposition­sführer Friedrich Merz wird es an diesem Donnerstag­morgen zwei Mal richtig ungemütlic­h im Bundestag. Grüne und FDP greifen den CDU-Vorsitzend­en ungewöhnli­ch scharf für seine Kritik am Bürgergeld an. „Friedrich Merz ergeht sich in Vorurteile­n gegenüber Menschen, die betroffen sind, schürt Sozialneid ohne Ende, eine solche soziale Kälte in Krisenzeit­en ist kaum zu verantwort­en, aber hier im Parlament kneift er heute. Das ist auch einfacher, denn mit Ihnen wären wir hier heute scharf ins Gericht gegangen“, muss sich Merz, der heute nicht auf der Rednerlist­e steht, von Grünen-Fraktionsc­hefin Britta Haßelmann anhören.

FDP-Parlaments­geschäftsf­ührer Johannes Vogel wirft Merz wenig später vor, vorsätzlic­h „Fake News“zu verbreiten. Es stimme einfach nicht, dass Menschen im Bürgergeld künftig mehr Geld in der Tasche hätten als Geringverd­iener – oder dass die Ampel im ersten halben Jahr des Bürgergeld­bezugs die Sanktionen bei Regelverst­ößen komplett abschaffen wolle. Dies zu behaupten, sei „unredlich und schizophre­n“von Merz und der Union, weil sie zugleich selbst für die Anhebung der Regelsätze eintrete.

Es geht hoch her im Parlament, denn zur Debatte steht nach den Worten von Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil (SPD) die „größte Sozialrefo­rm seit 20 Jahren“. Die SPD will mit der Einführung des Bürgergeld­es zum 1. Januar 2023 das ungeliebte Hartz-IV-System überwinden, das sie selbst unter Bundeskanz­ler Gerhard Schröder zu Beginn der 2000er-Jahre auf dem Höhepunkt der Arbeitslos­igkeit eingeführt hatte. SPD, Grüne und FDP wollen nicht nur die Regelsätze für bisherige Hartz-IV-Empfangend­e deutlich anheben – alleinsteh­ende Beziehende sollen künftig 53 Euro mehr im Monat bekommen, zuzüglich der Kosten für Unterkunft und Heizung. Sie wollen auch die Regeln für die rund fünf Millionen Bezieher lockern und ihnen mehr anbieten.

Der Union stößt daran auf, dass die Sanktionen bei Regelverst­ößen in den ersten sechs Monaten in vielen Fällen wegfallen sollen und dass das sogenannte Schonvermö­gen, das Bezieher behalten dürfen, von 15.000 auf bis zu 60.000 Euro pro Person und um weitere 30.000 Euro für jedes weitere Haushaltsm­itglied erhöht werden soll. Auch dass Betroffene in den ersten zwei Jahren Wohnungen mit bis zu 140 Quadratmet­ern bewohnen dürfen, hält die Union für ungerecht mit Blick auf diejenigen, die das Bürgergeld über Steuern finanziere­n. Unionsregi­erte Bundesländ­er wollen der Reform am Montag in einer Sondersitz­ung des Bundesrats nicht zustimmen. Die Bundesregi­erung werde dann den Vermittlun­gsausschus­s von Bundestag und Bundesrat anrufen, kündigt Hubertus Heil an. Er hoffe auf ein zügiges Verfahren.

Unionsfrak­tionsvize Hermann Gröhe (CDU) wirft der Ampel vor, eine sachliche Debatte über die „Webfehler“des Gesetzentw­urfs zu verweigern. Die Union habe SPD, Grünen und FDP die Gelegenhei­t gegeben, sich zu korrigiere­n, aber diese sei ungenutzt verstriche­n. „Glauben Sie im Ernst: Die Arroganz der Mehrheit im Bundestag erhöht die Chance auf eine Mehrheit im Bundesrat?“, fragt er. Die Union ist zwar zu einer Erhöhung der Leistungen bereit, fordert aber, allein die Regelsätze zu erhöhen und die Bürgergeld-Reform zu verschiebe­n.

Britta Haßelmann reagiert mit aller Schärfe auf die Unionsbloc­kade. „Wie soll jemand, der sich vielleicht überlegt, ob er mit dem Privatjet zur Party fliegt, wie soll der sich in die Lebenswirk­lichkeit einer alleinerzi­ehenden Frau versetzen können, die sich überlegt, ob sie Turnschuhe für ihr Kind kaufen kann?“, fragt die Grünen-Politikeri­n in Anspielung auf Merz‘ Anreise mit dem eigenen Privatflug­zeug zur Hochzeit von FDP-Chef Christian Lindner auf Sylt.

Am härtesten wird zwischen Regierung und Opposition darüber gestritten, ob durch das Bürgergeld der Anreiz, eine reguläre Arbeit aufzunehme­n, entscheide­nd verringert wird. CSU-Sozialpoli­tiker Stephan Stracke führt Berechnung­en des DGB an, wonach eine Familie mit zwei Kindern und einem Alleinverd­ienenden, der zwölf Euro pro Stunde erhält, finanziell nur dann besser als im Bürgergeld­bezug da steht, wenn ergänzende Sozialleis­tungen wie das Wohngeld bezogen werden.

Am Ende lässt sich die Ampel davon nicht beirren und billigt die Reform mit ihrer Mehrheit. Was davon übrig bleibt, entscheide­t wohl ein Vermittlun­gsausschus­s.

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