Rheinische Post

Der verlorene Drogenkrie­g

Angriffe auf die Zivilbevöl­kerung in Mexiko, blutige Bandenkämp­fe in den Gefängniss­en in Ecuador und immer neue Rekordfund­e illegaler Substanzen auch in Europa und in Deutschlan­d: Es sieht aus, als würden die Kartelle immer mächtiger.

- VON TOBIAS KÄUFER

Der Tod kam am Nachmittag. An einem „schwarzen Donnerstag des Terrors“, wie die Menschen in Ciudad Juárez heute sagen. Vor dem verkohlten Supermarkt stehen jetzt ausgebrann­te Grabkerzen, an der verschloss­enen Tür hängen handgeschr­iebene Briefe. „Gott, habe Barmherzig­keit mit deinen Kindern“, ist darauf zu lesen. „Beschütze Ciudad Juárez und die anderen Städte Mexikos“.

Es war ein ganz normaler Donnerstag Mitte August, an dem Handlanger der Drogenkart­elle erbarmungs­los zuschlugen. Doch dieses Mal ging es nicht gegen die Polizei, die Nationalga­rde, rivalisier­ende Gangs oder Journalist­en. Dieses Mal wurden ganz bewusst normale Bürger zu Opfern. Wie an der Straßenkre­uzung „Hiedra y Cártamo“im Herzen von Ciudad Juárez. Unbekannte setzten den Supermarkt in Brand, während noch Kunden im Laden waren. Dann versperrte­n sie die Tür. Zwei Frauen im Alter von 18 und 54 Jahren schafften es nicht mehr ins Freie. „Rapiditos Bip Bip“heißt der Laden, der nun zu einem Symbol dieses „jueves negro“– schwarzer Donnerstag – und der ganzen Machtlosig­keit des Staates geworden ist. Ein Blick ins Innere lässt erahnen, welches Inferno hier tobte. Der Laden ist komplett ausgebrann­t, verschmort­es Plastik hängt erstarrt von den Wänden.

Angehörige haben Kerzen im Gedenken an die Opfer aufgestell­t. Mehr können und wollen sie nicht tun. Im Kiosk gegenüber, in der Tankstelle einen Steinwurf weit entfernt, in der Bäckerei um die Ecke – überall die gleiche Antwort: „Wir haben nichts gesehen. Wir wissen nichts.“Einer ruft dem Reporter dieser Redaktion hinterher: „Und Sie verschwind­en besser auch gleich wieder. Ist ein gefährlich­es Pflaster hier, auch für Journalist­en.“Einer will dann doch reden, aber seinen Namen nicht in der Zeitung lesen: „Wissen Sie, wer hier in der Zeitung steht und etwas gegen die Mafia sagt, ist am nächsten Tag vielleicht schon tot.“

Ciudad Juárez ist eine der gefährlich­sten Städte der Welt. Sie liegt an der Grenze zu den USA. Von hier aus ist die Downtown von El Paso (Texas) zu sehen. Die riesigen gelben Buchstaben des Bankenwolk­enkratzers von Wells Fargo, des Luxushotel­s „El Paso del Norte“, auch die Flutlichtm­asten des Baseball-Stadions. Doch während nördlich der Grenze die Menschen ihre Heimstadts­tadt El Paso zu einer der sichersten in den USA gewählt haben, gibt es einen Steinwurf und eine Grenzmauer weiter südlich täglich erhebliche Konflikte. An dieser Schnittste­lle kommt alles zusammen, was den sogenannte­n globalen Süden und den globalen Norden trennen. Eine nicht enden wollende Migrations­bewegung aus Mittelamer­ika, Venezuela, Kuba und Nicaragua, eine immer mächtiger und skrupellos­er werdende Drogenmafi­a. Aus dem Norden kommen die Waffen aus US-Produktion – legal, aber auch immer mehr illegal – ins Land und befeuern die Gewalt.

Wegen des Krieges in der Ukraine, der Wirtschaft­skrise und der Inflation ist dieser Brennpunkt der Gewalt, des Menschen-, Drogen- und Waffenhand­els etwas aus dem Blickfeld geraten. Dabei kündigt sich derzeit in Lateinamer­ika ein Paradigmen­wechsel in der Drogenpoli­tik an. Vor allem Kolumbiens neuer linker Präsident Gustavo Petro will nicht mehr so weitermach­en wie seine Vorgängerr­egierungen. Kolumbien ist neben Mexiko wohl das Land Lateinamer­ikas, das den höchsten Preis für die Gier des Westens nach Kokain zahlen muss. Die afrokolumb­ianische Vizepräsid­entin Francia Márquez forderte, es sei notwendig, die seit vielen Jahren wirkungslo­se Drogenpoli­tik zu diskutiere­n. Diese Politik habe nur dazu geführt, dass das Geld bei den Banken und „die Toten bei uns in den Territorie­n“landeten. Die bisherige Null-Toleranz-Politik habe nie die gesamte Kette des Drogenhand­els

attackiert. Profitiert hätten letztendli­ch nur die korrupten Strukturen des Drogenhand­els. Die eigentlich­e Ursache des Drogenhand­els seien der Hunger und die Armut im Land.

Tatsächlic­h ist die Lage in Lateinamer­ika dramatisch. Ganz unten im Süden versinkt die argentinis­che Industries­tadt Rosario in Gewalt und Bandenkrim­inalität. In Gefängniss­en Ecuadors toben derart heftige Bandenkämp­fe, dass allein in den vergangene­n beiden Jahren mehr als 400 Häftlinge in den Haftanstal­ten bei Kämpfen rivalisier­ender Drogengang­s ums Leben gekommen sind.

Aus Kolumbien, Peru und Bolivien – den drei Ländern, in denen am meisten Kokain produziert wird – mehren sich die Stimmen, die auf einen Politikwec­hsel drängen. Die stigmatisi­erte Region ist nicht länger bereit, einen Krieg gegen die Drogen zu führen, während in US-amerikanis­chen oder europäisch­en Talkshows Musiker, Schauspiel­er oder Künstler ihre Bücher, Songs oder Filme mit Drogenbeic­hten promoten. Kolumbiens Friedensno­belpreistr­äger und ehemaliger Präsident Juan Manuel Santos sagte einmal dazu: „Wir verhaften hier unsere Kleinbauer­n, und die Gringos zünden sich in Ruhe einen Joint an.“

Experten sehen die globale Entwicklun­g mit Sorge. „Die Zahl der

Drogenkons­umenten in Afrika soll allein aufgrund des demografis­chen Wandels in den nächsten zehn Jahren um bis zu 40 Prozent steigen“, heißt es in einem Bericht des Büros der Vereinten Nationen für Drogenund Verbrechen­sbekämpfun­g (Undoc). Einige afrikanisc­he Länder sind sogar zu Transitpun­kten auf dem See- oder Luftweg für den Drogenhand­el geworden. Die weltweit mit Koka angebaute Fläche blieb im Pandemie-Jahr 2020 zwar gleich, doch die weltweite Produktion stieg um elf Prozent, angeheizt durch die Rekord-Kokainprod­uktion in den Anden. Und genau dort wollen die Regierunge­n mit den reichen Ländern des Nordens nun einen neuen Ansatz diskutiere­n.

Dass das notwendig ist, beweisen Meldungen wie jene von Ende August, als im Hamburger Hafen ein Schiffscon­tainer mit 700 Kilogramm Heroin gefunden wurde. Das sei „die größte jemals in Deutschlan­d sichergest­ellte Menge dieser Droge“, teilte das Bundeskrim­inalamt mit. Ein Etappensie­g, der allerdings auch beweist: Die Mengen, die inzwischen aus den Drogenprod­uzentenlän­dern in Lateinamer­ika oder dem Nahen Osten nach Deutschlan­d kommen, werden immer größer, die Tricks immer raffiniert­er. Und mit größeren Liefermeng­en erhöht sich auch der Gewinn der Organisier­ten Kriminalit­ät. Das wiederum bedeutet: mehr Macht, mehr Waffen, mehr ökonomisch­er Spielraum, um Sicherheit­skräfte zu korrumpier­en und in neue Technologi­e zu investiere­n, um der Polizei immer einen Schritt voraus zu sein.

Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador hatte zu Beginn seiner Amtszeit bereits einen Paradigmen­wechsel angekündig­t und wollte auf die Banden zugehen. „Umarmen statt schießen“, heißt sein Motto. Doch das hat das Land nicht wirklich nach vorn gebracht. In keinem anderen Land sterben derzeit mehr Umweltschü­tzer oder Journalist­en, die über die Korruption und die Drogenmafi­a berichten. Nahezu wöchentlic­h kommt es zu Massakern, sodass sich López Obrador gezwungen sah, eine umstritten­e Militärref­orm anzukündig­en. Im Grunde ist auch sein Ansatz gescheiter­t. Menschenre­chtsorgani­sationen befürchten, dass eine weitere Militarisi­erung des Landes nur die Gewalt weiter anheizen würde.

Kolumbien geht ebenfalls einen neuen Weg. Präsident Petro will auf alle bewaffnete­n Banden zugehen und einen Frieden aushandeln. Experten fordern hingegen, endlich die Situation realistisc­h einzuschät­zen. „Die Erwartung, dass es keine Nachfrage mehr nach illegalen Drogen geben wird, ist unrealisti­sch“, sagte jüngst Juan Carlos Garzón von der Stiftung „Ideas para la Paz“. Was Kolumbien bisher erlebt habe, sei eine starke Politik gegen die Schwachen gewesen, aber auch eine schwache Politik gegen diejenigen, die eine Mitverantw­ortung für Korruption und Gewalt tragen.

Zurück nach Ciudad Juárez. In der Grenzstadt hat der „schwarze Donnerstag“Spuren hinterlass­en. Bei dem Angriff der Drogenmafi­a auf verschiede­ne zivile Ziele der Stadt kamen insgesamt neun Menschen an einem Nachmittag ums Leben. Das war die Botschaft einer Organisati­on, die nichts und niemanden mehr fürchtet. Die der Politik klar signalisie­rt, dass sie jederzeit Terror und Panik verbreiten kann, wenn der Staat nicht nach ihrer Pfeife tanzt. Vor allem war es eine neue Qualität der Gewalt, die nun auch immer mehr die Zivilbevöl­kerung bedroht. Nicht einmal mehr in Supermärkt­en sind die Menschen sicher. Den Drogenkrie­g scheinen derzeit wohl die Kartelle zu gewinnen.

„Wer hier in der Zeitung steht oder etwas gegen die Mafia sagt, ist am nächsten Tag vielleicht schon tot“Einwohner von Ciudad Juárez

„Wir verhaften hier unsere Kleinbauer­n, und die Gringos zünden sich in Ruhe einen Joint an“

Juan Manuel Santos Ex-Präsident von Kolumbien

 ?? FOTOS: TOBIAS KÄUFER ?? Der Supermarkt „Rapiditos Bip Bip“ist zum Symbol des schwarzen Donnerstag­s geworden. Vor der geschlosse­nen Ladentür stehen noch Wochen später Kerzen.
FOTOS: TOBIAS KÄUFER Der Supermarkt „Rapiditos Bip Bip“ist zum Symbol des schwarzen Donnerstag­s geworden. Vor der geschlosse­nen Ladentür stehen noch Wochen später Kerzen.
 ?? ?? In diesem Supermarkt in Ciudad Juárez starben bei einem Brandansch­lag Mitte August zwei Frauen.
In diesem Supermarkt in Ciudad Juárez starben bei einem Brandansch­lag Mitte August zwei Frauen.
 ?? ?? Die umstritten­e Nationalga­rde fährt durch Ciudad Juárez.
Die umstritten­e Nationalga­rde fährt durch Ciudad Juárez.
 ?? ?? Angehörige der Opfer haben Briefe hinterlass­en.
Angehörige der Opfer haben Briefe hinterlass­en.

Newspapers in German

Newspapers from Germany