Rheinische Post

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- VON MARTIN BEWERUNGE

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15. November 2022, ist es offiziell so weit: Dann soll der

Mensch das Licht der Welt erblicken. Acht Milliarden! Mag sein, dass er oder sie schon existiert. Das Datum gaukelt eine Exaktheit vor, die es nicht geben kann. Der Zeitpunkt ist eher symbolisch gewählt; er beruht auf Schätzunge­n der Uno, die so belastbar sind wie eben möglich, angesichts von aktuell mehr als 55 Millionen Erdbewohne­rn, die jedes Jahr sterben, und 137 Millionen, die geboren werden.

Ebenso ungewiss wird der Geburtsort unseres Rekordmens­chen bleiben. Es könnte ein ärmliches Zimmer in Dharavi, Mumbai, Indien sein, einem der größten Slums Asiens, oder das Lenox Hill Hospital, eine Geburtskli­nik an der feinen Park Avenue in Manhattan, New York, USA. Davon hängt einiges ab. Etwa die Chance, den Tag irgendwann in den 2080er-Jahren zu erleben, wenn die Weltbevölk­erung mit etwa 10,4 Milliarden ihr voraussich­tliches Maximum erreichen wird, um dann – erstmals seit der Pest im Mittelalte­r – zu schrumpfen: Am Ende des Jahrhunder­ts könnten es nach Berechnung­en der Uno noch 8,8 Milliarden sein.

15. November 2022: Nie zuvor haben so viele Menschen auf einmal den Planeten bevölkert. In den vergangene­n 70 Jahren hat sich die Weltbevölk­erung mehr als verdreifac­ht. Vor 8000 Jahren, zum Ende der letzten Eiszeit, lebten nach Berechnung­en des in Washington ansässigen Population Reference Bureau (PRB) rund fünf Millionen Menschen auf dem Globus. Um Christi Geburt waren es etwa 190 Millionen. Die erste Milliarde war in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunder­ts erreicht. Von zwei Milliarden im Jahr 1928 bis heute brauchte es keine 100 Jahre. Das Wachstum von sieben auf acht Milliarden dauerte nur noch elf

Jahre. Wie viele Menschen wohl jemals gelebt haben? Hier gehen die Schätzunge­n weit auseinande­r. Eine Berechnung des PRB vom vergangene­n Jahr, die den Zeitraum von 190.000 v. Chr. an zugrunde legt, kommt auf 117 Milliarden, andere Statistike­n auf lediglich 67 Milliarden. Wie auch immer: Daran gemessen, erscheinen die acht Milliarden des Jahres 2022 immer noch gewaltig.

Dabei vermehrt sich die Menschheit schon jetzt deutlich langsamer als noch vor einigen Jahrzehnte­n. Erstmals seit Beginn der Aufzeichnu­ng durch die Vereinten Nationen im Jahr 1950 ist die gegenwärti­ge Wachstumsr­ate unter ein Prozent pro Jahr gesunken. Das höchste jährliche Wachstum war 1964 mit 2,2 Prozent erreicht worden.

Die Gründe für den Rückgang der Rate: bessere Verfügbark­eit von Verhütungs­mitteln, Ausbau von Sozialsyst­emen, vor allem bessere Bildung für Mädchen und Frauen. Forscher der Washington­Universitä­t in Seattle haben herausgefu­nden, dass Frauen, wenn sie Zugang zu mehr Bildung und Verhütungs­mitteln haben, nicht mehr als 1,5 Kinder im Durchschni­tt wollen.

Während rasantes Bevölkerun­gswachstum Staaten auch künftig vor riesige Herausford­erungen stellen wird, ist es anderswo die massive Schrumpfun­g von Gesellscha­ften. Einerseits steigt die Zahl der Menschen in Afrika nach Angaben der Deutschen Stiftung Weltbevölk­erung von derzeit rund 1,4 Milliarden bis 2050 auf 2,5 Milliarden und bis zum Ende des Jahrhunder­ts auf womöglich 4,3 Milliarden, anderersei­ts geht eine Prognose der Shanghaier Akademie der Sozialwiss­enschaften davon aus, dass sich die Einwohnerz­ahl Chinas von derzeit 1,4 Milliarden bis zum Jahr 2100 auf 587 Millionen Menschen mehr als halbieren könnte. Experten glauben, dass viele Chinesinne­n und Chinesen, die mit der rigiden Ein-Kind-Politik aufgewachs­en sind, dieses Modell weiter als normal empfinden. Auf die chinesisch­en Privathaus­halte kommen absehbar immense Kosten zu, weil das Rentensyst­em und die Krankenver­sicherung bisher nur rudimentär entwickelt sind. Auch die indische Bevölkerun­g dürfte erst wachsen, bis 2100 aber schrumpfen – von derzeit knapp 1,4 Milliarden über 1,6 Milliarden im Jahr 2048 auf knapp 1,1 Milliarden am Ende des Jahrhunder­ts.

Der Schwund dürfte noch höher ausfallen, würden die Menschen weltweit nicht immer älter. Schon heute ist rund jeder Zehnte über 65 Jahre alt. 2050 wird es jeder Sechste sein, in Europa sogar jeder Vierte. Die Zahl der über 80-Jährigen weltweit wird sich von 143 Millionen im Jahr 2019 auf 426 Millionen im Jahr 2050 beinahe verdreifac­hen.

Immer ist das Bevölkerun­gswachstum Treiber für umwälzende Entwicklun­gen gewesen. Die Menschen wurden sesshaft, betrieben Ackerbau und Viehzucht, als die wachsende Population von der Jagd allein nicht mehr leben konnte. Die Industriel­le Revolution setzte nahezu gleichzeit­ig mit der Überschrei­tung der ersten Milliarden­marke ein.

Die weitreiche­nden Folgen der Industrial­isierung spürt derzeit jeder. Doch keineswegs alle Menschen hinterlass­en den gleichen ökologisch­en Fußabdruck. Fast die Hälfte der globalen Kohlendiox­id-Emissionen werden von den zehn Prozent der Weltbevölk­erung mit dem höchsten Einkommen in die Luft geblasen. Dazu zählt auch Deutschlan­d. Am Ende ist es eine Frage der gerechtere­n Verteilung von Ressourcen, wie viele Menschen der Planet noch aushält. Der allergrößt­e Teil jener, die in den kommenden Jahrzehnte­n dazukommen werden, wird weder SUV fahren noch zweimal im Jahr in den Urlaub jetten noch jede Menge Müll produziere­n. Noch immer hungern mehr als 800 Millionen Menschen weltweit, während inzwischen zwei Milliarden übergewich­tig sind – bis zum Jahr 2050 könnten es sogar mehr als vier Milliarden sein.

Es liegt nicht allein an unserem Rekordmens­chen, das zu ändern.

Chinas Bevölkerun­g könnte sich bis zum Ende des Jahrhunder­ts mehr als halbieren

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