Zweifel an der Schweiz
Die Regierung hat wiederholt Munitionsnachschub verweigert, den Deutschland in die Ukraine schicken wollte, und verweist auf ihre Neutralität. Europäische Staaten sorgen sich, wie zuverlässig das Land im Ernstfall liefert.
BRÜSSEL 12.800 Patronen sind nicht kriegsentscheidend. Doch schon beim Schutz ukrainischer Getreideschiffe spielt die Flugabwehr im umkämpften Süden des Landes eine herausragende Rolle. Deutschland hat dafür ausgemusterte GepardPanzer geliefert. Sie sind mit einer 35-Millimeter-Zwillingskanone des Schweizer Rüstungskonzerns Oerlikon ausgestattet. Bewaffnung und Munition kommt somit aus der Schweiz. Doch obwohl Verteidigungsministerin Christine Lambrecht nach einer ersten Absage noch einmal dringend intervenierte, verweigert die Schweiz ihre Zustimmung zur Nachschublieferung in die Ukraine. Und das hat Bedeutung weit über die davon konkret betroffenen 12.800 Schuss hinaus.
Die Bundeswehr benötigt Schweizer Munition für das Mantis-Flugabwehrsystem, den Schützenpanzer Puma, die Kampfflugzeuge Tornado und Eurofighter. „Wir brauchen verlässliche Lieferketten für den Ernstfall“, sagt die Vorsitzende des Bundestags-Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, unserer Redaktion. Ihre Schlussfolgerung daraus in puncto Schweiz und künftige Munitionsbeschaffung: Die Verlässlichkeit müsse „in Zukunft bei der Beschaffung auf allen Ebenen berücksichtigt“werden.
Ein anderer Punkt sind die Beistandsklauseln im EU- und im Nato-Vertrag. Wird ein Land von außen angegriffen, sollen und müssen die anderen alle erdenkliche Unterstützung leisten. Wenn dann die Schweiz ähnlich verfährt wie bei den Gepard-Patronen für die angegriffene Ukraine, können beide Bündnisse einpacken. Waffen und Munition made in Switzerland sind in Europa weit verbreitet. Mehr als 3000 Schweizer Firmen – die meisten nebenbei – sind in der Waffenproduktion tätig. Der Trend zeigt deutlich nach oben. Zwar legt die Schweiz Wert darauf, dass sie ihre Verteidigungsfähigkeit in erster Linie durch heimische Waffenproduktion selbst in der Hand behält. Doch darüber hinaus wird eifrig exportiert – im vergangenen Jahr im Wert von mehr als 750 Millionen Euro.
Seitdem Russland den Krieg gegen die Ukraine begonnen hat, füllen sich die Auftragsbücher. Schweizer Medien berichteten, dass die Mitarbeiter in den Waffenfabriken „mit der Arbeit kaum noch nach“kämen. In den Schweizer Fabriken des Düsseldorfer Rüstungskonzerns Rheinmetall sei die Produktion beschleunigt worden. Das war allerdings im Mai. Und damit vor der doppelten Absage an eine UkraineUnterstützung.
Begründet wird das Nein mit einer doppelten Bindung der Schweiz an absolute Neutralität. Zum einen beruft sich die Regierung in Bern auf die Haager Landkriegsordnung, die es verbiete, in einem Krieg nur einer Seite Waffen zu liefern. Zum anderen sieht sie sich an einer Zustimmung durch das nationale Kriegsmaterialgesetz gehindert, wonach ein Exportverbot für Länder gilt, die in nationale oder internationale Konflikte verwickelt sind oder in denen die Menschenrechte schwerwiegend verletzt werden. Die Schweizer Exportlisten legen den Verdacht nahe, dass die Schweizer Moral in Wirklichkeit eine doppelte ist. Denn auf Platz sechs der Zielländer stand im vergangenen Jahr Saudi-Arabien, das Krieg gegen den Jemen führt und von Menschenrechten nicht viel hält. Das komme daher, dass „Ersatzteile“für schon bewilligtes Kriegsmaterial geliefert werden könnten, versuchte das Staatssekretariat für Wirtschaft zu erklären.
Michael Gahler, Sicherheitsexperte der EVP im Europa-Parlament, nimmt die angebliche Neutralitätspflicht der Schweiz im Krieg Russlands gegen die Ukraine auseinander. „Die Schweiz verkauft an Deutschland, und selbst der Lieferant Deutschland wird dadurch nicht Kriegspartei. Erst recht kann die Schweiz dann nicht behaupten, im rechtlichen Sinne ihre Neutralität zu verletzen“, sagt der CDU-Europa-Abgeordnete. Er hält die Schweizer Begründung einer „Neutralität“für eine „etwas schräge Interpretation“.
Gahler: „Ich gehe davon aus, dass diese Haltung nicht durch die Milliarden-Einlagen russischer Oligarchen und Potentaten in Schweizer Banken motiviert ist.“
Der Außenexperte der Grünen im Europa-Parlament, Reinhard Bütikofer, sieht die Argumentation ebenfalls kritisch: „Wer aus vermeintlichen Neutralitätsgründen einem befreundeten Land militärische Lieferungen verweigert, die einem politisch gemeinsam unterstützen Opfer völkerrechtswidriger Aggression, nämlich der Ukraine, zugutekommen sollten, kann nicht bestreiten, dass der Aggressor, Russland, davon profitiert.“Diese Auslegung von Neutralität sei also nicht neutral. Mit Blick auf die EU- und Nato-Erwartungen sagt Bütikofer, es ließe sich keine verlässliche Partnerschaft auf dem Grundsatz aufbauen, Waffen nur zu verkaufen, wenn sie garantiert nicht eingesetzt werden.