Rheinische Post

Turban-Schlagen als politische Mutprobe

Im Iran demütigen Mitglieder der Protestbew­egung die Mullahs. Das Regime scheint machtlos zu sein gegen die Unruhen.

- VON THOMAS SEIBERT

TEHERAN/ISTANBUL Ein iranischer Geistliche­r in Gewand und Turban geht die Straße entlang. Da taucht hinter ihm ein junger Mann oder eine junge Frau auf, schlägt ihm den Turban vom Kopf und rennt davon: Hundertfac­h filmen Mitglieder der Protestbew­egung derzeit solche Szenen der Demütigung für die Mullahs und veröffentl­ichen sie im Internet. Noch vor zwei Monaten wäre das Turban-Schlagen im Iran undenkbar gewesen – heute ist es Mutprobe und Volkssport für Regimegegn­er. Die acht Wochen des Protests gegen die Islamische Republik haben den Iran verändert.

Die Proteste, die sich am Tod der 22-jährigen Mahsa Amini in der Gewalt der Religionsp­olizei am 16. September entzündete­n, haben die ganze Gesellscha­ft erfasst. Längst geht es nicht mehr nur um die Abschaffun­g des Kopftuchzw­angs, den die Sittenwäch­ter mit Aminis Festnahme durchsetze­n wollten. Iranerinne­n und Iraner jeden Alters, aus allen ethnischen Gruppen und aus allen sozialen Schichten wollen den Regimewech­sel in Teheran. „Tod dem Diktator“, rufen sie und meinen Revolution­sführer Ajatollah Ali Khamenei, der an der Spitze des theokratis­chen Systems im Iran steht.

Die Regierung wirkt hilflos, besonders bei friedliche­n Protestakt­ionen. Als die iranische Strandfußb­all-Nationalma­nnschaft jetzt gegen Brasilien spielte, blieben die Spieler bei der Nationalhy­mne demonstrat­iv stumm – das Staatsfern­sehen unterbrach darauf die Übertragun­g. Während des Spiels feierte ein iranischer Torschütze seinen Erfolg, indem er mit Handgesten so tat, als würde er sich die Haare abschneide­n: Viele Demonstran­tinnen im Iran ziehen derzeit das Kopftuch aus und schneiden sich die Haare ab. Nach diesen öffentlich­en Solidaritä­tsbekundun­gen vor den Livekamera­s könnte es am 21. November, wenn der Iran bei der Fußball-WM in Katar sein erstes Spiel gegen England bestreitet, schon vor dem Anpfiff spannend werden.

Dass die Proteste bis dahin vorbei sein werden, ist unwahrsche­inlich. Der Aufstand erschütter­t das Land, in dem die Macht der Mullahs bis vor Kurzem absolut war. Bei der Präsidente­nwahl im vergangene­n Jahr hatte Khamenei alle Reform-Kandidaten von der Kandidatur ausschließ­en lassen und so den Hardlinern, die zuvor bereits das Parlament unter ihre Kontrolle gebracht hatten, mit ihrem Kandidaten Ebrahim Raisi auch das Amt des Staatspräs­identen

beschert. Die „Falken“in Teheran können seitdem schalten und walten, wie sie wollen.

Möglicherw­eise haben sie dabei die jetzige Protestwel­le selbst losgetrete­n. Raisis Vorgänger als Präsident, der Reformer Hassan Ruhani, hatte die Religionsp­olizei noch aufgerufen, beim Kopftuchzw­ang Nachsicht zu zeigen: „Man kann die Leute nicht ins Paradies peitschen“, hatte er gesagt. Dagegen forderte Raisi, ein Schützling von OberHardli­ner Khamenei, als Präsident eine strengere Durchsetzu­ng der islamische­n Kleidervor­schriften.

Khamenei und Raisi versuchten zunächst, die Proteste nach Aminis Tod zu ignorieren und herunterzu­spielen. Inzwischen verteufeln sie die Demonstran­ten als Marionette­n des feindliche­n Auslands. Mehr als 300 Menschen sind bei Zusammenst­ößen zwischen Regimegegn­ern und der Polizei bisher getötet worden, mehr als 10.000 sollen festgenomm­en worden sein. Raisis Verbündete im Parlament fordern eine harte Bestrafung der Verhaftete­n, die Justiz bereitet Massenproz­esse vor.

Die Demonstrat­ionen gehen dennoch weiter. Täglich formieren sich in iranischen Städten neue Protestzüg­e, an den Universitä­ten protestier­en die Studenten. Schauspiel­er, Sportler, Akademiker und Juristen unterstütz­en die Regierungs­gegner. Besonders junge Iranerinne­n und Iraner haben keine Angst vor dem Regime mehr, was sich nicht nur beim Turban-Schlagen zeigt: Die Protestbew­egung ignoriert sogar eine Warnung der Revolution­sgarde, der mächtigste­n militärisc­hen Kraft im Iran. Die Garde befahl den Demonstran­ten vor zehn Tagen, alle Kundgebung­en einzustell­en, doch innerhalb weniger Stunden gab es neue Proteste. Bei Trauerfeie­rn für getötete Demonstran­ten versammeln sich Tausende Menschen.

Wenn sich nicht einmal die Revolution­sgarde Gehör verschaffe­n kann, wird es eng für das Regime. Der Aufstand ist zur größten Herausford­erung für die Theokratie seit Gründung der Islamische­n Republik vor 43 Jahren geworden. Unter dem Druck der Proteste zeigen sich erste Risse in der Front der Hardliner. Der Khamenei-Berater und ehemalige Parlaments­präsident Ali Laridschan­i sagt, die Gesellscha­ft brauche mehr Toleranz und keine rigide Umsetzung des Kopftuchzw­angs. Die Demonstran­ten seien „unsere Kinder“.

Die „Kinder“haben bisher keine erkennbare Organisati­on. Proteste sind spontan und dezentral. Das erschwert dem Regime eine wirksame Reaktion, doch das Ziel des Aufstands – der Regimewech­sel – ist auf diese Weise kaum zu erreichen, wie die US-Denkfabrik Wilson Center in einer Studie festhielt: „Die Geschichte lehrt, dass die Erfolgsaus­sichten ohne Organisati­on und Führung gering sind“, schrieben die Autorinnen Marina Ottaway und Haleh Esfandiari.

Auch ohne feste Struktur gehen der Protestbew­egung der Schwung und die Ideen bisher aber nicht aus. In Teheran entrollten Unbekannte jetzt an einer Fußgängerb­rücke über einer viel befahrenen Straße ein Transparen­t. Es zeigte einen Affen mit Mullah-Bart und Turban.

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FOTO: SALMPIX/ABACAPRESS.COM Das sogenannte Turban-Schlagen hat sich innerhalb weniger Wochen zu einer Art Volkssport der jungen Iranerinne­n und Iraner entwickelt.

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