Turban-Schlagen als politische Mutprobe
Im Iran demütigen Mitglieder der Protestbewegung die Mullahs. Das Regime scheint machtlos zu sein gegen die Unruhen.
TEHERAN/ISTANBUL Ein iranischer Geistlicher in Gewand und Turban geht die Straße entlang. Da taucht hinter ihm ein junger Mann oder eine junge Frau auf, schlägt ihm den Turban vom Kopf und rennt davon: Hundertfach filmen Mitglieder der Protestbewegung derzeit solche Szenen der Demütigung für die Mullahs und veröffentlichen sie im Internet. Noch vor zwei Monaten wäre das Turban-Schlagen im Iran undenkbar gewesen – heute ist es Mutprobe und Volkssport für Regimegegner. Die acht Wochen des Protests gegen die Islamische Republik haben den Iran verändert.
Die Proteste, die sich am Tod der 22-jährigen Mahsa Amini in der Gewalt der Religionspolizei am 16. September entzündeten, haben die ganze Gesellschaft erfasst. Längst geht es nicht mehr nur um die Abschaffung des Kopftuchzwangs, den die Sittenwächter mit Aminis Festnahme durchsetzen wollten. Iranerinnen und Iraner jeden Alters, aus allen ethnischen Gruppen und aus allen sozialen Schichten wollen den Regimewechsel in Teheran. „Tod dem Diktator“, rufen sie und meinen Revolutionsführer Ajatollah Ali Khamenei, der an der Spitze des theokratischen Systems im Iran steht.
Die Regierung wirkt hilflos, besonders bei friedlichen Protestaktionen. Als die iranische Strandfußball-Nationalmannschaft jetzt gegen Brasilien spielte, blieben die Spieler bei der Nationalhymne demonstrativ stumm – das Staatsfernsehen unterbrach darauf die Übertragung. Während des Spiels feierte ein iranischer Torschütze seinen Erfolg, indem er mit Handgesten so tat, als würde er sich die Haare abschneiden: Viele Demonstrantinnen im Iran ziehen derzeit das Kopftuch aus und schneiden sich die Haare ab. Nach diesen öffentlichen Solidaritätsbekundungen vor den Livekameras könnte es am 21. November, wenn der Iran bei der Fußball-WM in Katar sein erstes Spiel gegen England bestreitet, schon vor dem Anpfiff spannend werden.
Dass die Proteste bis dahin vorbei sein werden, ist unwahrscheinlich. Der Aufstand erschüttert das Land, in dem die Macht der Mullahs bis vor Kurzem absolut war. Bei der Präsidentenwahl im vergangenen Jahr hatte Khamenei alle Reform-Kandidaten von der Kandidatur ausschließen lassen und so den Hardlinern, die zuvor bereits das Parlament unter ihre Kontrolle gebracht hatten, mit ihrem Kandidaten Ebrahim Raisi auch das Amt des Staatspräsidenten
beschert. Die „Falken“in Teheran können seitdem schalten und walten, wie sie wollen.
Möglicherweise haben sie dabei die jetzige Protestwelle selbst losgetreten. Raisis Vorgänger als Präsident, der Reformer Hassan Ruhani, hatte die Religionspolizei noch aufgerufen, beim Kopftuchzwang Nachsicht zu zeigen: „Man kann die Leute nicht ins Paradies peitschen“, hatte er gesagt. Dagegen forderte Raisi, ein Schützling von OberHardliner Khamenei, als Präsident eine strengere Durchsetzung der islamischen Kleidervorschriften.
Khamenei und Raisi versuchten zunächst, die Proteste nach Aminis Tod zu ignorieren und herunterzuspielen. Inzwischen verteufeln sie die Demonstranten als Marionetten des feindlichen Auslands. Mehr als 300 Menschen sind bei Zusammenstößen zwischen Regimegegnern und der Polizei bisher getötet worden, mehr als 10.000 sollen festgenommen worden sein. Raisis Verbündete im Parlament fordern eine harte Bestrafung der Verhafteten, die Justiz bereitet Massenprozesse vor.
Die Demonstrationen gehen dennoch weiter. Täglich formieren sich in iranischen Städten neue Protestzüge, an den Universitäten protestieren die Studenten. Schauspieler, Sportler, Akademiker und Juristen unterstützen die Regierungsgegner. Besonders junge Iranerinnen und Iraner haben keine Angst vor dem Regime mehr, was sich nicht nur beim Turban-Schlagen zeigt: Die Protestbewegung ignoriert sogar eine Warnung der Revolutionsgarde, der mächtigsten militärischen Kraft im Iran. Die Garde befahl den Demonstranten vor zehn Tagen, alle Kundgebungen einzustellen, doch innerhalb weniger Stunden gab es neue Proteste. Bei Trauerfeiern für getötete Demonstranten versammeln sich Tausende Menschen.
Wenn sich nicht einmal die Revolutionsgarde Gehör verschaffen kann, wird es eng für das Regime. Der Aufstand ist zur größten Herausforderung für die Theokratie seit Gründung der Islamischen Republik vor 43 Jahren geworden. Unter dem Druck der Proteste zeigen sich erste Risse in der Front der Hardliner. Der Khamenei-Berater und ehemalige Parlamentspräsident Ali Laridschani sagt, die Gesellschaft brauche mehr Toleranz und keine rigide Umsetzung des Kopftuchzwangs. Die Demonstranten seien „unsere Kinder“.
Die „Kinder“haben bisher keine erkennbare Organisation. Proteste sind spontan und dezentral. Das erschwert dem Regime eine wirksame Reaktion, doch das Ziel des Aufstands – der Regimewechsel – ist auf diese Weise kaum zu erreichen, wie die US-Denkfabrik Wilson Center in einer Studie festhielt: „Die Geschichte lehrt, dass die Erfolgsaussichten ohne Organisation und Führung gering sind“, schrieben die Autorinnen Marina Ottaway und Haleh Esfandiari.
Auch ohne feste Struktur gehen der Protestbewegung der Schwung und die Ideen bisher aber nicht aus. In Teheran entrollten Unbekannte jetzt an einer Fußgängerbrücke über einer viel befahrenen Straße ein Transparent. Es zeigte einen Affen mit Mullah-Bart und Turban.