„Wie ein Pflaster auf einem Tumor“
Der Chef der Techniker-Krankenkasse sagt, was er von Lauterbachs Reformen, Homöopathie und Cannabis hält. Und er beschreibt, was passiert, wenn Männer in die falsche Klinik gehen.
DÜSSELDORF Jens Baas sitzt mit einem dicken Pullover beim Videointerview vor dem Monitor. Auch die Techniker-Krankenkasse, deren Vorstandschef er ist, will Energie sparen und heizt die Zentrale in Hamburg weniger. Ein Gespräch über Kassenfinanzen in Zeiten der Krise.
Der dritte Corona-Winter steht vor der Tür. Sind wir gut vorbereitet? BAAS Wir haben viele Infizierte und eine noch höhere Dunkelziffer, aber die Lage ist unter Kontrolle. Wir können nur hoffen, dass keine gefährliche Variante kommt – denn gut vorbereitet ist Deutschland nicht. Wir haben noch immer keine gute Datenlage, keine klare Impf-Kommunikation, aber einen föderalen Flickenteppich an Regeln.
Der Schätzerkreis sagt für die gesetzlichen Krankenkassen eine Finanzierungslücke von 17 Milliarden Euro im Jahr 2023 voraus. Wie kann das passieren?
BAAS Das liegt kaum an Corona, auch wenn die Pandemie die Kassen viel Geld gekostet hat, allein für die Folgen der gesetzlichen Regelungen waren es Milliarden. Das Finanzloch hat aber strukturelle Ursachen und resultiert vor allem aus teuren Gesetzen der Vergangenheit. Nun hat der Bund die Kassen gezwungen, das Tafelsilber zu verkaufen, also die Rücklagen aufzulösen. Besonders ärgerlich ist, dass die hinter uns liegende Zeit mit guter Konjunktur nicht für Reformen genutzt wurde.
Was halten Sie von Karl Lauterbachs Gesetz, mit dem er nun die Kassenfinanzen stabilisieren will? BAAS Das Gesetz ist wie ein Pflaster auf einem Tumor, es bietet keine kausale Therapie. Wir müssen die Verschwendung im Gesundheitssystem stoppen, und der Bund muss endlich die Kosten für Empfängerinnen und Empfänger von Arbeitslosengeld II vollständig übernehmen.
Was ist da das Problem?
BAAS Die Kassen geben für Beziehende von Arbeitslosengeld II rund dreimal so viel aus, wie sie vom Staat erhalten. Der Koalitionsvertrag hat eine Erhöhung der Zuschüsse versprochen, doch Herr Lauterbach konnte sich beim Finanzminister nicht durchsetzen. Nun müssen weiterhin die Beitragszahlenden ran – Privatversicherte zahlen dagegen nichts. Das geht nicht.
Der größte Kostenblock der Kassen sind die Krankenhäuser…
BAAS Kliniken sind ein zentraler Faktor: Unsere Krankenhauslandschaft ist teuer, die Versorgung der Patientinnen und Patienten nicht optimal. Und viele Beschäftigte sind überlastet und unzufrieden. Wir brauchen mehr Qualität. Ein Beispiel: Wenn ein Mann sein Prostatakarzinom in einer beliebigen Klinik behandeln lässt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass er dies nicht überlebt, inkontinent oder impotent wird, deutlich höher, als wenn er in ein spezialisiertes Zentrum geht. Wir brauchen mehr Spezialisierung in der Kliniklandschaft.
Wie viele Häuser sollten geschlossen werden?
BAAS Es geht weniger um die Anzahl der Häuser, es kommt auf die Betten an. Wir würden mit einem Drittel weniger Betten auskommen. Dann würden sich auch die Personalprobleme und überflüssigen Operationen verringern. So aber hat jeder Klinikdirektor das Ziel, seine Betten zu füllen. In der Folge werden auch eigentlich unnötige Operationen gemacht, zum Beispiel am Knie oder am Rücken. Pro Kopf hat Deutschland auch genug Pflegekräfte, aber nicht pro Bett.
Sie fordern keine Klinikschließungen?
BAAS Man sollte bestimmte kleinere Häuser umwandeln: Sie könnten die Grundversorgung und kleinere Eingriffe anbieten, für die man vielleicht auch übernachten muss. Aber bitte keine Tumorbehandlung. Wir brauchen eine große Klinikreform, die ganz genau hinschaut, wo welcher Bedarf besteht.
Das Geld der Kassen wird knapp. Drohen Patienten Leistungskürzungen in den Praxen?
BAAS Im System wird noch so viel Geld verschwendet. Das müssen wir in den Griff bekommen, bevor wir über Leistungskürzungen sprechen. In den Praxen frisst zum Beispiel die Bürokratie viel Zeit und damit Geld. Angestellte telefonieren Befunden und Terminen hinterher. Das liegt auch daran, dass die Chancen der Digitalisierung nicht genutzt werden.
Gerade wurde in Dortmund das Pilotprojekt zum E-Rezept begraben. Wollen Ärzte keine Digitalisierung? BAAS Es liegt nicht an Ärzten oder an Apotheken. Der Nutzen ist weder für sie noch für Patienten zu erkennen. Das E-Rezept wurde falsch aufgesetzt, das liegt auch daran, dass die staatliche Gesellschaft Gematik die App selbst programmiert hat. Das Verkehrsministerium baut doch auch keine Autos, sondern bestimmt nur die Regeln. Wir brauchen ein nutzerfreundliches E-Rezept, das digital einfach funktioniert. Für den Zugang wäre es etwa viel einfacher, die Kassen-Apps zu nutzen, die setzen bereits Millionen von Versicherten ein.
Was ist mit dem Terminservice-Gesetz, das Patienten zu schnelleren Terminen beim Facharzt verhelfen sollte?
BAAS Das Terminservice-Gesetz war ein Reinfall: Der Effekt war überschaubar, die Wartezeiten für die Patientinnen und Patienten sind nicht nennenswert gesunken, das Gesetz kostete die Kassen aber Milliarden. Das hätte man sich sparen können.
Wie sieht es bei den Beiträgen aus? Wie stark wird der Beitrag der Techniker-Krankenkasse steigen? BAAS Der durchschnittliche Zusatzbeitrag liegt aktuell bei 1,3 Prozent, das Bundesgesundheitsministerium hat ihn für das kommende Jahr um 0,3 Prozentpunkte angehoben. Ob wir unseren Zusatzbeitrag, der aktuell bei 1,2 Prozent liegt, erhöhen, entscheidet im Dezember die Selbstverwaltung. Aber ich verspreche: Wir werden weiter günstiger als der Durchschnittssatz sein.
Warum streichen Kassen nicht umstrittene Leistungen wie die Homöopathie? Auch die TechnikerKrankenkasse bietet sie an.
BAAS Ich hätte kein Problem damit, wenn die Politik Homöopathie als Kassenleistung für alle verbietet, denn die Leistung ist zu Recht umstritten. Solange der Staat die Leistung aber erlaubt, werden wir sie anbieten müssen. Denn wir konkurrieren hier auch mit privaten Versicherungen mit entsprechenden Angeboten. Für viele Menschen ist Homöopathie eine Indikatorleistung – sie zeigt an, ob die Kasse mehr bietet, als sie muss. Und die Ausgaben dafür sind extrem gering.
Was halten Sie von der Legalisierung von Cannabis zu Genusszwecken, die der Bundesgesundheitsminister plant?
BAAS Aus meiner persönlichen Sicht als Arzt finde ich das eine schwierige Diskussion. Ich bin nicht grundsätzlich dagegen, aber natürlich senkt eine Legalisierung die Hemmschwelle. Und wir wissen, dass Cannabis bei Kindern und Jugendlichen Psychosen auslösen kann. Zudem deuten sich sehr komplizierte Regeln an, sodass der legale GenussCannabis vermutlich sehr teuer werden wird. Damit würde es dann auch nicht gelingen, den Schwarzmarkt auszutrocknen.