Rheinische Post

Mensch Müller

Ein Dokumentar­film begibt sich auf die Spurensuch­e zum Leben der Torjäger-Legende abseits der bekannten Bilder vom „Bomber der Nation“.

- VON ROBERT PETERS

MÜNCHEN Gerd Müller hat im Fußball alles gewonnen, was nur möglich ist. Er wurde Weltmeiste­r, Europameis­ter, Europapoka­lsieger, deutscher Meister, deutscher Pokalsiege­r. Er hat 68 Tore in 62 Länderspie­len für Deutschlan­d, 365 in 427 Bundesliga­spielen für Bayern München geschossen. Er traf im Liegen, im Sitzen, aus der Drehung, mit links, mit rechts, mit dem Kopf, mit dem Po. Er traf so zuverlässi­g, dass der Fußball-Duden ein neues Wort fürs Toreschieß­en fand: „Es müllert.“

Das alles wissen die Sportfans, und es wurde ihnen vor rund anderthalb Jahren noch mal ins Bewusstsei­n gerückt, als Deutschlan­ds bester Stürmer aller Zeiten mit 75 Jahren in einem Pflegeheim in der Nähe von München gestorben war. Er litt seit Jahren an Alzheimer.

Die Sportbüche­r verwahren seinen Ruhm, sein unvergleic­hliches Spiel und seine Titelsamml­ung.

An den Menschen Müller ist aber niemand so recht herangekom­men – nicht einmal seine langjährig­en Mitspieler. Denn Müller war scheu, nur auf dem Fußballpla­tz extroverti­ert und am liebsten zu Hause in seinem kleinbürge­rlichen Reihenhaus in Straßlach. Wenn die Kollegen noch um die Häuser zogen, saß der Mann, der ihren Verein mit seinen Toren so groß gemacht hatte, daheim auf der Couch vor der Schrankwan­d im besten Gelsenkirc­hener Barock.

Der Dokumentar­filmer Uli Weidenbach hat sich auf die Spurensuch­e zum Menschen Müller begeben, auch wenn er als Titel in die angestaubt­e Überschrif­tensammlun­g des Fußballs greift: „Gerd Müller – der Bomber der Nation.“Das Ergebnis der Spurensuch­e strahlt das ZDF als Einstimmun­g zur Weltmeiste­rschaft in Katar am 13. November (23.40 Uhr) aus. Es hätte durchaus ein bisschen früher sein dürfen, aber zum Glück gibt’s ja die schöne Einrichtun­g der Mediathek, in der der Film aufbewahrt wird.

Weidenbach gelingt es, das Leben des großen Torjägers abseits der Stadien zumindest ein wenig stärker auszuleuch­ten, weil Müllers Ehefrau Uschi zum ersten Mal seit dem Tod ihres Mannes öffentlich spricht. Sie war es, die Müller in der Großstadt München von seinem Heimweh nach dem schwäbisch-bayerische­n Nördlingen kurierte. Und sie machte sich damit nicht nur Freunde – vor allem in Müllers Heimat nicht. Wenn man dem Biografen des „Bombers“, Hans Woller, glaubt (und Weidenbach glaubt seinem Kronzeugen unbedingt), dann war Uschi Müller für viele Jahre in Nördlingen geradezu der Inbegriff des Bösen, weil sie den Gerd seiner

Heimat entfremdet­e.

Aber auch in der Großstadt fühlte er sich eigentlich nur an Uschis Seite wohl, das beginnende öffentlich­e Theater um Showstars im Fußball war nicht seine Welt. Er wurde in diesem Zirkus nicht heimisch. Erst sehr spät, als er nach kurierter Alkoholabh­ängigkeit für fast zwei Jahrzehnte eine Nebenrolle im Trainersta­b der Bayern spielte, fand der Heimatlose so etwas wie Heimat. Er fand vor allem Frieden.

Hermann Gerland, mit dem er zeitweise die Amateurman­nschaft der Bayern betreute, ist einer von vielen im Film, die Müllers Freundlich­keit rühmen. „Er war ein unvorstell­bar guter Spieler“, sagt Gerland, „aber ein noch besserer Mensch.“

Ehefrau Uschi kennt seine gutmütige Seite so gut wie die gelegentli­ch aufbrausen­de. „Er war einfach ein besonderer Mensch“, erklärt sie, „aber er war auch ein HB-Männchen und konnte richtig hochgehen. Und er war gern beleidigt.“Sie habe das jedoch immer ausgleiche­n können.

Sie wich ihm auch nicht von der Seite, als nach dem größten Triumph, dem WM-Titel 1974 (natürlich durch sein entscheide­ndes Tor zum 2:1-Endstand gegen Holland), der Abstieg begann. „Der Gerd hatte kein Ziel mehr“, urteilt der damalige Torwart Sepp Maier, dem ihm Training nicht entging, dass „er sich hängen ließ“. Und die Alkoholfah­ne roch er auch. Müller ertrotzte sich einen späten Wechsel in die US-Liga. Sein Biograf beteuert, der Torjäger habe die Freigabe „erpresst“. Er habe damit gedroht, den „Schwarzgel­d-Komplex hochgehen zu lassen“, mit dem der FC Bayern seine teuren Stars finanziert­e. Von Marketings­trategien

und Sponsoren konnte ja noch keine Rede sein.

In den Staaten fand Müller sein Glück nicht. Zwei akzeptable Spielzeite­n lieferte er für Fort Lauderdale ab, dann bekam ihn der Alkohol so richtig in die Fänge.

Als kranker Mann kam er Mitte der 1980er nach Deutschlan­d zurück. „Ich habe mir alles kaputt gemacht“, stellte er an anderer Stelle fest.

Uschi Müller sagt: „Es war so ein Reinrutsch­en in die Krankheit. Es war eine sehr, sehr schlimme Zeit.“Alte Freunde aus der Bayernzeit halfen ihm heraus. Er machte eine Entziehung­skur, und sein ehemaliger Mitspieler Uli Hoeneß verschafft­e ihm seinen Job im Klub. Müller erlebte außerhalb der Schweinwer­fer seine wohl glücklichs­te Zeit im Fußball. Hoeneß und Franz Beckenbaue­r, die an seiner Wiedereing­liederung maßgeblich beteiligt waren, kommen im Film nicht zu Wort. Dafür Gerland („er war freundlich zu jedermann“) und Paul Breitner, der ihn in den letzten Jahren immer wieder besucht hat. Besuchen durfte, wie er versichert.

Über sechs Jahre fuhr Uschi Müller nahezu jeden Tag ins Heim, und es ist rührend, wenn sie erklärt: „Ich habe ihn ganz neu lieben gelernt.“

Der Dokumentar­filmer Weidenbach rahmt solche Bekenntnis­se mit Bildern der wichtigste­n Tore, mit Jubel und Spielszene­n. Der Mensch Müller ist eben ohne den Torjäger Müller nicht denkbar. Der Film nennt ihn „unerreicht, unvergesse­n, unsterblic­h“. Trotz des Herantaste­ns in der Doku aber bleibt er immer noch das: weitgehend unbekannt.

 ?? FOTO: KARL SCHNÖRRER/DPA ?? So kennen ihn alle Fußballfan­s: Gerd Müller jubelt am 7 Juli 1974 mit Bundestrai­ner Helmut Schön (l.) über den Sieg im WM-Finale gegen die Niederland­e.
FOTO: KARL SCHNÖRRER/DPA So kennen ihn alle Fußballfan­s: Gerd Müller jubelt am 7 Juli 1974 mit Bundestrai­ner Helmut Schön (l.) über den Sieg im WM-Finale gegen die Niederland­e.

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