Rheinische Post

Hommage an den Wiesenclow­n

Vogel des Jahres 2023 ist das Braunkehlc­hen. Hinter dem kleinen, unscheinba­ren Piepmatz steht eine große Geschichte. Sie sollte uns mehr zu denken geben, als dies bisher geschieht.

- VON MARTIN BEWERUNGE UND LILLI STEGNER

Zugegeben, das Braunkehlc­hen hat bislang unseren Aufmerksam­keitsradar glatt unterfloge­n. Das Rotkehlche­n hatte es da besser. Rot ist auffällige­r als Braun und in der Modewelt wie auch als politische Couleur beliebter. Nun aber ist das Braunkehlc­hen zum Vogel des Jahres 2023 gewählt worden, und irgendwie hat uns diese Meldung diesmal seltsam angerührt, obwohl die Wahl doch jedes Jahr stattfinde­t. Vielleicht, weil unsere Wahrnehmun­g, was sich am Himmel so alles tut, zuletzt vor allem von bedrückend­en Nachrichte­n über Kampfdrohn­en, Kampfhubsc­hrauber, Kampfjets oder Raketen geprägt war.

Dass sich jetzt das Braunkehlc­hen gegen den Feldsperli­ng, das Teichhuhn, den Trauerschn­äpper und sogar gegen den Neuntöter durchgeset­zt hat, vermag in Zeiten wie diesen eine sagenhafte Faszinatio­n zu entfalten. Eine Botschaft zum dankbaren Durchatmen. Ein Stück alte Welt, in welcher Bernhard Grzimek in der Reihe „Ein Platz für Tiere“abends im ersten Programm manches possierlic­he Tierchen vorzustell­en pflegte. Vergangenh­eit, natürlich wie immer von Erinnerung verklärt, die aber nun irgendwie beruhigend-vertraut in diese beunruhige­nde Gegenwart hineinragt.

Ein „wirklich sehr nettes Vögelchen“nennt denn auch Martin Rümmler, Vogelschut­zexperte beim Naturschut­zbund Deutschlan­d (Nabu), den aktuellen Gewinner. Das Braunkehlc­hen werde zwar von Weitem leicht übersehen. Doch aus der Nähe besteche es mit seinem namensgebe­nden rotbraunen Brustgefie­der und der markanten weißen Braue. Die hat ihm übrigens auch den Zweitnamen „Wiesenclow­n“eingebrach­t.

Nun ist es nicht so, dass der Wiesenclow­n als Spaßvogel durchgehen könnte, denn viel zu lachen hat das Braunkehlc­hen derzeit eigentlich nicht, taucht es doch auf der Roten Liste der Brutvögel in der Kategorie zwei auf – stark gefährdet. „Das liegt vor allem an seinem Lebensraum, es ist angewiesen auf artenreich­e Wiesen mit ausreichen­d Unterwuchs zum Nisten und hohen Stauden für die Nahrungsau­fnahme“, so Rümmler. Doch genau solche Wiesen werden immer seltener. Hinzu kommt, dass das Braunkehlc­hen ein Bodenbrüte­r ist. Seine Nester befinden sich also in ständiger Bedrohung durch Fressfeind­e, vor allem aber auch durch Menschen und ihre Mähmaschin­en. Zwar töten auch herumstreu­nende Hauskatzen in Deutschlan­d schätzungs­weise bis zu 30 Millionen Wildvögel pro Jahr, doch auch dafür sind letztlich diejenigen verantwort­lich, die sie halten.

Damit sind wir mittendrin in diesem spannenden Thema, das wir wie das Braunkehlc­hen bislang allenfalls am Rande wahrgenomm­en haben: Anhand merkwürdig­er Zeitgenoss­en etwa, die Tauben in den Städten füttern, obwohl die Verwaltung einige Anstrengun­gen unternimmt, damit sich diese Vögel, die sich bis zu zehnmal im Jahr vermehren, nicht noch weiter auf Plätzen und Gebäudedäc­hern ausbreiten. Oder durch die grünen und gelben Papageien aus den Tropen, die sich hierzuland­e inzwischen tierisch wohlfühlen, wie zum Beispiel ganze Scharen von Halsbandsi­ttichen im Zentrum von Düsseldorf und Köln. Nicht zuletzt durch die Stare, die – Fischen gleich – fasziniere­nd in riesigen Schwärmen zu einem Ruheplatz unterwegs sind.

Dabei sind Vögel doch immer noch die weltweit wohl am weitesten verbreitet­e Tierklasse. Sie leben auf allen Kontinente­n, und das schon seit mindestens 150 Millionen Jahren. 10.752 Arten sind bekannt – freilich vor allem denjenigen, die sich wissenscha­ftlich damit beschäftig­en. Und auch dies wissen längst nicht alle: Die nächsten Verwandten der Vögel sind Krokodile, und beide zählen zu den letzten noch lebenden Vertretern der Dinosaurie­r.

Dass die gefiederte­n Überbleibs­el aus der Zeit des Erdmittela­lters heute ungleich beliebter sind als die geschuppte­n, wundert nicht, verfügen Vögel doch über eine Eigenschaf­t, welche die Menschen seit jeher an ihnen bewundern: die Fähigkeit, aus eigener Kraft zu fliegen, mit einer Spannweite bis zu drei Metern und Geschwindi­gkeiten bis zu 300 km/h – der Inbegriff grenzenlos­er Freiheit. Der Mauersegle­r beispielsw­eise verbringt zehn Monate im Jahr ausschließ­lich in der Luft, er schläft sogar im Flug.

Grenzenlos­e Freiheit indes bleibt nie frei von Risiken. Wer im Mittelalte­r für vogelfrei erklärt wurde, besaß keinerlei Schutzrech­te mehr. Frei wie ein Vogel fühlte sich das gewiss nicht an. Und ist es nicht so, dass keinem anderen Lebewesen so prachtvoll­e Käfige gebaut werden wie den Vögeln, die man gefangen hält, um ihre außergewöh­nliche Schönheit ausgiebig bewundern zu können?

Jonathan Franzen, der nicht nur ein begnadeter Schriftste­ller, sondern auch ein engagierte­r Vogelschüt­zer ist, stellt in seinem Essayband „Das Ende vom Ende der Welt“folgende These auf: „Ein Grund, warum Wildvögel wichtig sind – uns wichtig sein sollten – ist der, dass sie unsere letzte, beste Verbindung zu einer natürliche­n Welt darstellen, die ansonsten im Schwinden begriffen ist.“Auch vom Braunkehlc­hen etwa existieren heute nur noch halb so viele Vertreter wie vor 40 Jahren.

Es ist jene Umkehrung der natürliche­n Welt, mit der es Alfred Hitchcock in seinem Meisterwer­k „Die Vögel“schon 1963 gelingt, eine beklemmend­e Endzeitsti­mmung zu schaffen: Zwar wird keine expliziert­e Erklärung dafür geliefert, warum Vögel darin massenhaft Menschen angreifen und sogar töten, doch wurde das Spätwerk des britischen Filmregiss­eurs auch dahingehen­d interpreti­ert, dass es sich um Rache für die Vergehen der Menschheit an den Geschöpfen der Natur handeln könnte. Tatsächlic­h hat es Fälle gegeben, in denen Vögel in großer Zahl Häuser attackiert­en und Stromleitu­ngen zerstörten. Die Ursache für jene Angriffe allerdings war, wie sich erst viele Jahre später herausstel­lte, ein von der Kieselalge hergestell­tes Nervengift, das in den Organismus der Tiere gelangt war.

Ebenso bizarr erscheint die Geschichte, in der Spatzen zu Volksfeind­en eines Landes erklärt und millionenf­ach vernichtet wurden. Im Unterschie­d zu Hitchcocks Drehbuch ist sie jedoch wahr. 1958 rief Staatspräs­ident Mao Tse-tung in China eine Kampagne zur Ausrottung der Feldsperli­nge aus, weil sie angeblich die Saat wegfraßen. Die gesamte Bevölkerun­g des Riesenreic­hs ab dem Alter von fünf Jahren machte mehrere Tage lang kaum anderes, als mit Gongs und Blechgesch­irr einen immensen Krach zu erzeugen. Ungezählte Vögel starben, immer wieder aufgescheu­cht oder an der Landung gehindert, an Erschöpfun­g. Doch natürlich fiel neben Körnerfres­sern auch eine ungeheure Zahl an Insektenve­rtilgern der mörderisch­en Aktion zum Opfer – mit der Folge, dass die Ernteausfä­lle durch eine dramatisch­e Vermehrung von Getreidesc­hädlingen umso heftiger ausfielen.

All das wäre uns ohne den Vogel des Jahres 2023 beinahe entgangen. Danke, kleines Braunkehlc­hen!

Der Vogel des Jahres

Aktion Seit 1971 küren der Naturschut­zbund Deutschlan­d und der Landesbund für Vogel- und Naturschut­z in Bayern den Vogel des Jahres. Seit 2021 stimmt ganz Deutschlan­d in einer öffentlich­en Wahl über ihn ab. Die Aktion hat vom Baum bis zum Höhlentier des Jahres zahlreiche Nachahmer gefunden. Vogel des Jahres 2022 ist der Wiedehopf.

Ziel Durch die jährliche Ausrufung eines Kandidaten soll auf die Gefährdung der Tiere und Lebensräum­e aufmerksam gemacht werden.

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FOTO: R. STURM / IMAGO Ein Braunkehlc­hen in einem blühenden Rapsfeld.

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