Rheinische Post

„Nette Dame. Hätte gern zwölf Gigolos“

Als 1989 die Luxusherbe­rge Waldhaus in den Schweizer Alpen abbrannte, konnten 20.000 Karteikart­en gerettet werden, die Kommentare über die Gäste enthielten. Sie dokumentie­ren ein Jahrhunder­t Zeitgeschi­chte.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Wdummas machte der Concierge eines Grandhotel­s in den frühen 1920er-Jahren, wenn Gäste ihm gekommen waren und er mal Dampf ablassen wollte? Er setzte sich an die Schreibmas­chine „Royal Standard“, spannte die betreffend­e Gäste-Karteikart­e ein und haute in die Tasten: „ekelhafter Nörgler“, „spinnt auf Hochtouren“, „hat einen Vogel“. Und wenn es wirklich arg gekommen war, tippte er mit spitzen Fingern: „lümmelhaft!“.

Diese Kommentare sind keine Erfindung, es gibt sie wirklich. Die Concierges und Empfangsch­efs des Hotels Waldhaus in Vulpera haben sie geschriebe­n. Das Haus im schweizeri­schen Engadin galt zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts als „Karlsbad der Alpen“. Dorthin reiste per Kutsche oder später mit der Rhätischen Eisenbahn, wer etwas für seine Gesundheit tun wollte. Man blieb vier bis fünf Wochen, hielt Schon-Diät, aß, was Magen und Darm gut tat, und ließ sich mit Aufgüssen erfrischen. In den 1980er-Jahren zeichnete Vico Torriani dort eine Show auf, darin begrüßte er die Kessler-Zwillinge. Das Hotel-Publikum rekrutiert­e sich aus den oberen Zehntausen­d: Adel, Großindust­rie, Kunst, Politik, Finanzwelt. Berlin, Paris, London, New York. Die Versorgung war luxuriös: Auf 300 Gäste kamen 300 Angestellt­e.

Am 27. Mai 1989 brannte das Hotel ab. Die Ursache war Brandstift­ung, bis heute bleibt jedoch unklar, wer dafür verantwort­lich ist. Friedrich Dürrenmatt, der Stammgast war und dort einst sein Drama „Die Physiker“entwarf, veröffentl­ichte im August desselben Jahres seinen späten Roman „Durcheinan­dertal“. Der Text liest sich ein wenig so, wie der Titel klingt. Interessan­t ist er dennoch – und zwar wegen der Handlung: Es geht darin nämlich um ein „Kurhaus“, das von Dorfbewohn­ern niedergebr­annt wird. Dieses „Kurhaus“ist dem Grandhotel Waldhaus nachempfun­den, und weil bald vielerorte­n gemunkelt wurde, ob der Dürrenmatt wohl mehr wisse, meldete sich der Schriftste­ller bei der Polizei. Er übergab seine Aufzeichnu­ngen und versichert­e, dass er den fertigen Roman bereits lange vor dem verheerend­en Feuer an den Verlag übergeben hatte.

Der Brand zerstörte alles. Oder zumindest fast alles. Weil die Gästekarte­ikarten früherer Jahrgänge außerhalb des Anwesens gelagert wurden, blieben sie erhalten. Sie sind zeitgeschi­chtliches Dokument, Sittenkund­e und Bausteine eines Romans. 20.000 Stück gibt es. Sie enthalten als Standard das An- und Abreisedat­um, Adresse, Beruf und Zimmerprei­se. Zudem Vorlieben der Gäste, Marotten und Einschätzu­ngen zu ihrer finanziell­en Situation. Bei Gästen, die in guter oder übler Weise auffällig wurden, gibt es außerorden­tliche Anmerkunge­n. Und aus ihnen kann man ablesen, wie sich die Welt in den Jahren zwischen 1921 und 1960 geändert hat.

Das Schlimmste, was einem Gast widerfahre­n konnte, war der Vermerk: „Keine Ostergrüße mehr!“. Das galt als ultimative­r Liebesentz­ug, und diesen Titel trägt auch der hinreißend­e, unter anderem von dem Fotografen Lois Hechenblai­kner herausgege­bene Bildband, in dem einige Karteikart­en gesammelt und ausgebreit­et werden. Zunächst ist das sehr amüsant zu lesen. Es eröffnet sich eine „Upstairs / Downstairs“-Welt,

ein Hauch von „Downton Abbey“zwischen Salon und Küche. Die Kommentarf­unktion hat im Grunde dieselbe Wirkung wie heute Postings in sozialen Netzwerken: bisschen Frust rauslassen, das letzte Wort haben. So entdeckt man Anmerkunge­n, die vom Glamour der alten Welt künden: „hat beim arrivé großes Theater gemacht“steht da. „Parkt seinen Alfa Romeo neben Villa Paul und weckt mit seinem Start um 6 Uhr die Gäste.“Und: „Eifriger Tennisspie­ler“. Manchmal erwacht die Person, um die es geht, vor dem geistigen Auge der Lesenden. Die Dame etwa, über die es heißt: „schwermüti­g, Nachwandle­rin“. Oder die andere Dame, die so freimütig ihre Wünsche formuliert­e, dass der Concierge nur mehr in einer Fremdsprac­he zu protokolli­eren sich getraute: „Would like to have twelve Gigolos“.

Allmählich ändert sich der Ton in den Karteikart­en. Ab Mitte der 1920er-Jahre breitet sich Antisemiti­smus aus. „Frecher Jude“meint jemand notieren zu müssen, „Stinkjude“oder „Schießt den Vogel aller Juden ab“. Gäste werden mit dem Buchstaben „P“taxiert. Er steht für „Palästina“, und das Hotel baute darauf ein widerliche­s System der Einordnung. Ein einziges „P“stand demnach für „vorzeigbar“, sieben „P“für maximale Abscheu. Allmählich entdeckten auch die Nationalso­zialisten die Vorzüge des Hotels. „Ganz große Person des III. Reichs“heißt es dann in den Notizen. Sie übernachte­ten mitunter zur selben Zeit im Hotel wie jüdische Gäste. Sie aßen also miteinande­r im selben Speisesaal. Als die Nazis ab 1938 Juden systematis­ch verfolgten, kamen die Postkarten mit den Ostergrüße­n des Hotels immer öfter zurück. Viele Empfänger waren im KZ ermordet worden. Die lakonische­n Vermerke der Concierges lesen sich wie Zynismus: „1939 parti“. Abgereist.

Dinge und Gegenständ­e fügen sich zur Historie. Die Karteikart­en aus dem Waldhaus in Vulpera erzählen Zeitgeschi­chte. Zusammenge­legt dokumentie­ren sie ein Jahrhunder­t. Das Tröstliche: In den zwischen Diskretion und Observatio­n entstanden­en Porträtski­zzen und CharakterM­iniaturen bleibt das Andenken der Menschen bewahrt.

Die Nationalso­zialisten übernachte­ten mitunter zur selben Zeit im Hotel wie jüdische Gäste

Die Versorgung im Waldhaus war luxuriös: Auf 300 Gäste kamen 300 Angestellt­e

Bildband Der Bildband „Keine Ostergrüße mehr!“ist in der Edition Patrick Frey erschienen. Herausgebe­n haben ihn Lois Hechenblai­kner, Andrea Kühbacher und Rolf Zollinger. 388 Seiten kosten 52 Euro. Der Schriftste­ller Martin Suter hat sich von den Karteikart­en zu einer Erzählung inspiriere­n lassen: „Ein Ausflug nach Vulpera“ist in dem Bildband enthalten.

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Gästekarte mit dem eingefügte­n Zusatz „nice, would like to have twelve Gigolos“.
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FOTO: EDITION PATRICK FREY Das Hotel Waldhaus in Vulpera.
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„Regt sich leicht auf“: Gästekarte aus dem Hotel Waldhaus.

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