Rheinische Post

Der verlottert­e Föderalism­us

- VON MARTIN KESSLER

MEINUNG Die Ministerpr­äsidentenk­onferenz ist zum mächtigste­n Gremium der Bundesrepu­blik geworden.

Dort werden Hunderte von Milliarden verteilt und alle wichtigen Probleme verhandelt. Politisch sinnvoll ist das nicht.

Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD) hat eine gute Meinung von seinen Kollegen in den Ländern. „Die Ministerpr­äsidenten sind Brüder“, sagt der Chef der Ampelkoali­tion halb im Scherz – und schließt gerne die vier Länder-Chefinnen ein. Scholz beherrscht die Verhandlun­gen in der Ministerpr­äsidentenk­onferenz wie jüngst um die geplanten Entlastung­spakete aus dem Effeff. Er war selbst Erster Bürgermeis­ter von Hamburg, nun ist er deutscher Regierungs­chef.

Was den Kanzler weniger kümmert, sind die Verschränk­ung der staatliche­n Ebenen, das Hinund Hergeschie­be von Milliarden, das Gefeilsche um Geld und das Fehlen von Verantwort­ung, wenn etwas schiefgeht. Es gibt fast keinen Politikber­eich, in dem der Bund nicht die Zustimmung der Länder braucht. Umgekehrt lassen die Länder die Bundesregi­erung selbst bei ureigenen Aufgaben mitreden, wenn sie dafür nur ordentlich abkassiere­n können. Das deutsche föderale System, das Zusammensp­iel von Bund, Ländern und Gemeinden, auf das die politische Klasse hierzuland­e so stolz ist, hat sich zu einem unentwirrb­aren Knäuel von Kompetenze­n, Finanzen, Machtanspr­üchen und Schuldzuwe­isungen entwickelt, in dem die Bürgerinne­n und Bürger vollends die Übersicht verloren haben. „Der aktuelle Föderalism­us entspricht nicht mehr dem, was sich das Grundgeset­z ursprüngli­ch darunter vorgestell­t hat“, kritisiert der Verfassung­srechtler Christoph Degenhart, der an der Universitä­t Leipzig Staatsund Verwaltung­srecht lehrt.

Nach dem Staatsaufb­au der Bundesrepu­blik bilden die 16 Länder den Bundesstaa­t. Sie sind damit eigentlich für den Großteil der Rechtssetz­ung verantwort­lich. Der Bund sollte sich ausschließ­lich um die zentralsta­atlichen Aufgaben wie Verteidigu­ng, Sozialvers­icherung und nationale Verkehrswe­ge kümmern. Tatsächlic­h strebt die Bundesregi­erung aber eine Allzuständ­igkeit an, mischt sich ein in die frühkindli­che Betreuung, die Digitalisi­erung der Schulen, den öffentlich­en Nahverkehr, die Verbesseru­ng der Studienbed­ingungen und den sozialen Wohnungsba­u. Alles Kompetenze­n der Länder, die sie aber angeblich wegen Geldmangel­s nicht allein lösen können: „Der Bund legt Programme auf, in denen er nicht originär zuständig ist, auch auf Druck der Länder“, meint Eckhardt Rehberg (CDU), der langjährig­e Chefhaushä­lter der Unionsfrak­tion.

Das Vordringen des Bundes in Domänen der Länder hat eine lange Tradition. Es ging los bei den Gemeinscha­ftsaufgabe­n für die Wirtschaft­sförderung in den 60er-Jahren, weiter mit dem Wohnungsba­u und den Zuschüssen für Investitio­nsvorhaben der Länder und Kommunen. Seit der Flüchtling­skrise 2015 tritt eine Beschleuni­gung ein – ausgelöst durch die damaligen Milliarden­hilfen an die Länder, später durch die finanziell­en Corona-Maßnahmen, den Beistand bei der Hochwasser­katastroph­e sowie den verschiede­nen Entlastung­spaketen in der Energiepre­iskrise.

Besonders großzügig war der Bund bei der Finanzieru­ng für den Ausbau der Ganztagsbe­treuung, der Digitalisi­erung von Schulen und Justiz, der Regionalis­ierung des Nahverkehr­s sowie den Kosten der Unterkunft bei HartzIV-Empfängern. Der Haushaltss­precher der FDP-Fraktion, Otto Fricke, hat ausgerechn­et, wie stark der Bund den Ländern bei diesen Aufgaben hilft. Allein aus dem Bundeshaus­halt 2023 erhalten Länder und Kommunen 53 Milliarden Euro, gut elf Prozent des gesamten Etats. Dazu kommen 15 Milliarden Euro durch einen höheren Anteil der Länder und Gemeinden an der Umsatzsteu­er sowie 19 Milliarden durch Zuschüsse aus den zahlreiche­n Sonderverm­ögen des Bundes. „Die Länder haben inzwischen höhere Steuereinn­ahmen als der Bund. Trotzdem klagen sie ständig darüber, dass sie die Herausford­erungen nicht allein stemmen können“, moniert der liberale Haushaltse­xperte.

Den Bund kommt das teuer zu stehen. Von 2020 bis 2026 häuft die Bundesregi­erung eine zusätzlich­e Schuld von 607 Milliarden Euro an. Weitere Verbindlic­hkeiten entstehen durch die Sonderverm­ögen für Verteidigu­ng, den Wirtschaft­sstabilisi­erungsfond­s und die Energiepre­isbremsen in Höhe von 360 Milliarden Euro. Beim Corona-Wiederaufb­auprogramm der EU ist Deutschlan­d mit 192 Milliarden Euro beteiligt. „Der Bund baut Verbindlic­hkeiten von rund 1,2 Billionen Euro auf. Das ist auch Folge der an die Länder verlorenen Etatmittel und Einnahmen“, sagt Haushaltse­xperte Rehberg.

Der warme Geldregen stärkt die Position der Ministerpr­äsidenten und schränkt zugleich ihren Handlungss­pielraum ein. „Es gibt zwischen den Ländern kaum noch Wettbewerb um die beste Lösung“, beklagt Fricke. Zugleich benötigt die Bundesregi­erung bei allen ihren Vorhaben die Zustimmung der Länder. Die Ministerpr­äsidenten können punkten, wenn sie Geld lockermach­en; für die höheren Steuern sind sie aber nicht verantwort­lich. Nicht einmal in gute Politik können sie das viele Geld umsetzen. „Die Qualität der Verwaltung ist grottensch­lecht“, bemängelt der Freiburger Wirtschaft­sprofessor Lars Feld. Stattdesse­n fließt zu viel Geld in Projekte des Umbaus der Wirtschaft als Folge des Klima- oder Strukturwa­ndels oder in eine fragwürdig­e Wirtschaft­sförderung. „Wir lösen die Probleme unseres Landes gemeinsam“, lobt der Kanzler den kooperativ­en deutschen Föderalism­us. Man könnte die Art, bei der alle mitreden und niemand Verantwort­ung übernimmt, auch einen verlottert­en Föderalism­us nennen.

„Es gibt zwischen den Ländern kaum noch Wettbewerb um die beste Lösung“Otto Fricke FDP-Chefhaushä­lter

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