Der verlotterte Föderalismus
MEINUNG Die Ministerpräsidentenkonferenz ist zum mächtigsten Gremium der Bundesrepublik geworden.
Dort werden Hunderte von Milliarden verteilt und alle wichtigen Probleme verhandelt. Politisch sinnvoll ist das nicht.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat eine gute Meinung von seinen Kollegen in den Ländern. „Die Ministerpräsidenten sind Brüder“, sagt der Chef der Ampelkoalition halb im Scherz – und schließt gerne die vier Länder-Chefinnen ein. Scholz beherrscht die Verhandlungen in der Ministerpräsidentenkonferenz wie jüngst um die geplanten Entlastungspakete aus dem Effeff. Er war selbst Erster Bürgermeister von Hamburg, nun ist er deutscher Regierungschef.
Was den Kanzler weniger kümmert, sind die Verschränkung der staatlichen Ebenen, das Hinund Hergeschiebe von Milliarden, das Gefeilsche um Geld und das Fehlen von Verantwortung, wenn etwas schiefgeht. Es gibt fast keinen Politikbereich, in dem der Bund nicht die Zustimmung der Länder braucht. Umgekehrt lassen die Länder die Bundesregierung selbst bei ureigenen Aufgaben mitreden, wenn sie dafür nur ordentlich abkassieren können. Das deutsche föderale System, das Zusammenspiel von Bund, Ländern und Gemeinden, auf das die politische Klasse hierzulande so stolz ist, hat sich zu einem unentwirrbaren Knäuel von Kompetenzen, Finanzen, Machtansprüchen und Schuldzuweisungen entwickelt, in dem die Bürgerinnen und Bürger vollends die Übersicht verloren haben. „Der aktuelle Föderalismus entspricht nicht mehr dem, was sich das Grundgesetz ursprünglich darunter vorgestellt hat“, kritisiert der Verfassungsrechtler Christoph Degenhart, der an der Universität Leipzig Staatsund Verwaltungsrecht lehrt.
Nach dem Staatsaufbau der Bundesrepublik bilden die 16 Länder den Bundesstaat. Sie sind damit eigentlich für den Großteil der Rechtssetzung verantwortlich. Der Bund sollte sich ausschließlich um die zentralstaatlichen Aufgaben wie Verteidigung, Sozialversicherung und nationale Verkehrswege kümmern. Tatsächlich strebt die Bundesregierung aber eine Allzuständigkeit an, mischt sich ein in die frühkindliche Betreuung, die Digitalisierung der Schulen, den öffentlichen Nahverkehr, die Verbesserung der Studienbedingungen und den sozialen Wohnungsbau. Alles Kompetenzen der Länder, die sie aber angeblich wegen Geldmangels nicht allein lösen können: „Der Bund legt Programme auf, in denen er nicht originär zuständig ist, auch auf Druck der Länder“, meint Eckhardt Rehberg (CDU), der langjährige Chefhaushälter der Unionsfraktion.
Das Vordringen des Bundes in Domänen der Länder hat eine lange Tradition. Es ging los bei den Gemeinschaftsaufgaben für die Wirtschaftsförderung in den 60er-Jahren, weiter mit dem Wohnungsbau und den Zuschüssen für Investitionsvorhaben der Länder und Kommunen. Seit der Flüchtlingskrise 2015 tritt eine Beschleunigung ein – ausgelöst durch die damaligen Milliardenhilfen an die Länder, später durch die finanziellen Corona-Maßnahmen, den Beistand bei der Hochwasserkatastrophe sowie den verschiedenen Entlastungspaketen in der Energiepreiskrise.
Besonders großzügig war der Bund bei der Finanzierung für den Ausbau der Ganztagsbetreuung, der Digitalisierung von Schulen und Justiz, der Regionalisierung des Nahverkehrs sowie den Kosten der Unterkunft bei HartzIV-Empfängern. Der Haushaltssprecher der FDP-Fraktion, Otto Fricke, hat ausgerechnet, wie stark der Bund den Ländern bei diesen Aufgaben hilft. Allein aus dem Bundeshaushalt 2023 erhalten Länder und Kommunen 53 Milliarden Euro, gut elf Prozent des gesamten Etats. Dazu kommen 15 Milliarden Euro durch einen höheren Anteil der Länder und Gemeinden an der Umsatzsteuer sowie 19 Milliarden durch Zuschüsse aus den zahlreichen Sondervermögen des Bundes. „Die Länder haben inzwischen höhere Steuereinnahmen als der Bund. Trotzdem klagen sie ständig darüber, dass sie die Herausforderungen nicht allein stemmen können“, moniert der liberale Haushaltsexperte.
Den Bund kommt das teuer zu stehen. Von 2020 bis 2026 häuft die Bundesregierung eine zusätzliche Schuld von 607 Milliarden Euro an. Weitere Verbindlichkeiten entstehen durch die Sondervermögen für Verteidigung, den Wirtschaftsstabilisierungsfonds und die Energiepreisbremsen in Höhe von 360 Milliarden Euro. Beim Corona-Wiederaufbauprogramm der EU ist Deutschland mit 192 Milliarden Euro beteiligt. „Der Bund baut Verbindlichkeiten von rund 1,2 Billionen Euro auf. Das ist auch Folge der an die Länder verlorenen Etatmittel und Einnahmen“, sagt Haushaltsexperte Rehberg.
Der warme Geldregen stärkt die Position der Ministerpräsidenten und schränkt zugleich ihren Handlungsspielraum ein. „Es gibt zwischen den Ländern kaum noch Wettbewerb um die beste Lösung“, beklagt Fricke. Zugleich benötigt die Bundesregierung bei allen ihren Vorhaben die Zustimmung der Länder. Die Ministerpräsidenten können punkten, wenn sie Geld lockermachen; für die höheren Steuern sind sie aber nicht verantwortlich. Nicht einmal in gute Politik können sie das viele Geld umsetzen. „Die Qualität der Verwaltung ist grottenschlecht“, bemängelt der Freiburger Wirtschaftsprofessor Lars Feld. Stattdessen fließt zu viel Geld in Projekte des Umbaus der Wirtschaft als Folge des Klima- oder Strukturwandels oder in eine fragwürdige Wirtschaftsförderung. „Wir lösen die Probleme unseres Landes gemeinsam“, lobt der Kanzler den kooperativen deutschen Föderalismus. Man könnte die Art, bei der alle mitreden und niemand Verantwortung übernimmt, auch einen verlotterten Föderalismus nennen.
„Es gibt zwischen den Ländern kaum noch Wettbewerb um die beste Lösung“Otto Fricke FDP-Chefhaushälter