Karol Szymanowskis „Stabat Mater“
Klassik Die Musik unseres östlichen Nachbarlandes ist hier kaum so bekannt wie diejenige aus Frankreich. Alle kennen Claude Debussy und Maurice Ravel, aber wer kennt Karol Szymanowski? Trotz umfangreicher Bemühungen seiner Anhänger hat dieser polnische Komponist (1882– 1937) die Wahrnehmungsschwelle des internationalen Musikpublikums nie übertreten können. Das ist insofern schade, als er im Zwischenfach von Spätromantik und Impressionismus sicher einer der spannendsten Komponisten überhaupt war – seine Tentakeln registrierten sogar Impulse von Alexander Skrjabin und den russischen Futuristen. Szymanowski war ein freier Geist, der gleichwohl – in seinen jüngeren, nationalbewusst angehauchten Jahren – ein „Stabat Mater“komponiert hat. Man mag darin einen Reflex auf die polnische Marienfrömmigkeit sehen, obwohl sich der Komponist traditioneller polnischer Melodien und Rhythmen bedient. Zugleich war das Werk mit privaten Sorgen beschwert: Seine geliebte Nichte war gestorben, und Szymanowski schrieb das „Stabat Mater“denn auch als Trostmusik für seine trauernde
Schwester, die Mutter des Kindes. Soeben hat die Jury des Deutschen Schallplattenpreis eine ältere, aber neu aufgelegte und fast beängstigend intensive Aufnahme des großartigen Werks (bei Orfeo) ausgezeichnet: Der Dirigent Michael Gielen hatte es 1995 mit exzellenten Solisten, einem Chorus sowie dem ORF-Orchester im Wiener Konzerthaus eingespielt. Beigefügt
ist von Krzystzof Penderecki (1933–2020) das „Dies irae“; es ist ein Akt eines politisch-katholischen Bekenntnisses und heißt im Untertitel „Oratorium zum Gedächtnis der Opfer von Auschwitz“. Es umkreist – wie spätere geistliche Werke Pendereckis auch – biblische Themen und theologisch-liturgische Texte. Zugleich betreiben sie eine Ästhetisierung der Dissonanz. Bei Penderecki gibt es viele Schrecken, die sich in Versöhnlichkeit auflösen. Gielens dirigentische Übersicht ist faszinierend. Wolfram Goertz