Türkei beschuldigt Kurdenmiliz
Nach dem Anschlag in Istanbul präsentiert die Polizei eine mutmaßliche Täterin aus Syrien. Doch die Darstellung ist nicht schlüssig.
ISTANBUL Ahlam Albashir heißt die Frau, die nach dem Anschlag von Istanbul viele Rätsel aufgibt. Die türkische Anti-Terror-Polizei nahm Albashir in der Nacht zu Montag in einem Vorort der Metropole fest: Sie soll die Bombe gelegt haben, die am Sonntag auf dem Istiklal-Boulevard im Stadtzentrum sechs Menschen tötete, darunter ein neunjähriges Kind. Die Syrerin Albashir sei Mitglied der syrischen Kurdenmiliz YPG, einem Ableger der Terrororganisation PKK, sagt die türkische Regierung. Innenminister Süleyman Soylu macht die USA für die Gewalttat mitverantwortlich, weil Amerika in Syrien mit der YPG kooperiert. Doch Soylus Version wirft Fragen auf. Kritiker der türkischen Regierung vermuten, dass Ankara mit den Schuldzuweisungen politische Ziele im Dauerstreit mit dem Westen verfolgt.
Die Istanbuler Polizei erklärte nach einer ersten Vernehmung von Albashir, die mutmaßliche Täterin habe sich selbst als Mitglied einer Geheimdienst-Einheit der YPG bezeichnet. Sie sei nach eigenen Angaben über die von der Türkei besetzte syrische Stadt Afrin und die syrische Rebellenprovinz Idlib illegal in die Türkei eingereist, um den Anschlag zu verüben. Innenminister Soylu sagte, der Befehl für den Anschlag sei aus der nordsyrischen Stadt Kobani gekommen, die von der YPG kontrolliert wird. Der Befehlsgeber sitzt laut Soylu ebenfalls in Haft, aber am Montag blieb offen, ob er unter den 46 Verdächtigen war, die laut Polizei im Rahmen der Ermittlungen gegen Albashir in Istanbul gefasst wurden. PKK und YPG erklärten, sie hätten nichts mit dem Anschlag zu tun.
Soylu, der führende nationalistische Hardliner im türkischen Kabinett, verband seine Stellungnahmen
zu dem Anschlag mit Vorwürfen an die USA und Europa. Amerika wirke mit seinen Beileidsbekundungen nach der Gewalttat wie „ein Mörder, der als einer der Ersten am Tatort auftaucht“, sagte der Minister. Die Beileidserklärung der US-Botschaft in Ankara weise er zurück: Es sei fraglich, ob ein Staat, der mit der YPG zusammenarbeite, noch Bündnispartner der Türkei sein könne.
Die Zusammenarbeit der USA mit der YPG ist seit Jahren ein Streitpunkt zwischen Ankara und Washington. Amerika betrachtet die Kurdenmiliz als wichtigsten Helfer im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat in Syrien. Ankara
wirft den USA vor, eine Terrororganisation mit Geld und Waffen zu versorgen, die dann für Anschläge gegen die Türkei verwendet würden. Die türkische Armee hält mehrere Gebiete im Norden Syriens besetzt, um die YPG aus dem Grenzgebiet zurückzudrängen. Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte im Mai mit einer neuen Intervention gedroht. Der jüngste Anschlag in Istanbul werde nun möglicherweise zur Rechtfertigung des neuen Angriffs herangezogen, schrieb der amerikanische Nahost-Experte Seth Frantzman auf Twitter.
Auch Europa geriet ins Visier türkischer Regierungspolitiker. Soylu
sagte, die mutmaßliche Bombenlegerin habe nach Griechenland fliehen wollen, was durch ihre Festnahme verhindert worden sei. Erdogans Kommunikationschef Fahrettin Altun schrieb auf Twitter, Terroranschläge in der Türkei seien „direkte und indirekte Konsequenzen der Unterstützung einiger Länder für Terrorgruppen“. Diese Länder müssten ihre Unterstützung beenden, „wenn sie die Freundschaft der Türkei haben wollen“. Ankara wirft dem Nato-Beitrittskandidaten Schweden sowie Deutschland und anderen europäischen Ländern vor, die PKK und die YPG zu unterstützen.
Details der Festnahme von Albashir verstärkten die anti-westlichen Signale der türkischen Regierung. Die Polizei veröffentlichte ein Foto der Frau in einem Pullover mit der Aufschrift „New York“. Auf einem Video, das laut den Behörden die Festnahme von Albashir zeigte, wurden Dollar-Scheine in der Wohnung der Verdächtigen gezeigt. Die Darstellung der türkischen Regierung ist nicht völlig schlüssig. So hat die YPG bisher noch nie Anschläge in Istanbul verübt – das Hauptinteresse der syrischen Kurdenmiliz ist es, eine neue türkische Intervention in ihrem Gebiet in Syrien zu vermeiden. Ein Bombenanschlag in Istanbul
würde diesem Interesse widersprechen. Auch die PKK, die durch Offensiven der türkischen Armee geschwächt ist, hat seit Jahren keinen Anschlag in Istanbul mehr verübt. PKK und YPG wiesen denn am Montag auch jegliche Verantwortung für den Anschlag von sich. Ein Angriff auf die Zivilbevölkerung auf türkischem Boden käme in keinem Fall infrage, hieß es in einer von der PKK-nahen Nachrichtenagentur ANF veröffentlichten Erklärung.
Frantzman schrieb, er finde es verdächtig, dass alle Teile der Ermittlungen „wie ein Uhrwerk“zusammenpassten und dass die türkischen Behörden den Fall innerhalb weniger Stunden für gelöst erklärt hätten. Der im griechischen Exil lebende türkische Politologe Cengiz Aktar warf Ankara vor, das „Drehbuch eines ‚Terroranschlags‘“geschrieben zu haben. Sinan Ciddi, Professor an der Universität der US-Marineinfanterie, kommentierte, die türkischen Vorwürfe deuteten auf eine von Ankara organisierte „Terrorkampagne“hin, bei der die USA und Kurden als Täter hingestellt werden sollten.