Rheinische Post

Eine Stadt trotzt der Finsternis

Hunderttau­sende Haushalte in Kiew haben keinen Strom, der Rest wird nur stundenwei­se versorgt. Während der Bürgermeis­ter vor einer Katastroph­e warnt, besuchen die Kiewer Restaurant­s und Konzerte bei Kerzensche­in.

- VON CEDRIC REHMAN

KIEW Die japanische Nudelsuppe wärmt den Bauch. Die kleine Portion in dem Asia-Restaurant unweit des Kiewer Bahnhofs hat den Appetit aber eher angeregt, als den Hunger zu stillen. Kaum ist das Smartphone in der Hand, um den QR-Code für die Speisekart­e zu öffnen, wird es dunkel. Nur das Handy spendet ein wenig Licht. Die Mitarbeite­r schneiden auf einer Theke Sushi-Rollen, die Küche bleibt kalt. Die Gäste warten vor dem Restaurant auf dem unbeleucht­eten Gehsteig. Der ganze Bezirk ist finster. Den Russen ist es offenbar gelungen, die Energiever­sorgung der Ukraine in mehreren wellenarti­gen Attacken nachhaltig zu stören.

Immer wieder passiert das seit Mitte Oktober in Kiew – zuletzt an diesem Dienstag, als erneut über der Hauptstadt und dem ganzen Land russische Raketen abgefeuert werden, vornehmlic­h auf Energieinf­rastruktur.

Tage zuvor erinnert sich Ihor Shary, stellvertr­etender Einsatzlei­ter des staatliche­n ukrainisch­en Rettungsdi­enstes, an den Lärm der Drohnen, die am 17. Oktober Kiew trafen. Der 50-Jährige trägt eine dunkelblau­e Uniform mit dem blau-gelben Wappen der Ukraine und schwere Sicherheit­sschuhe. Er war bei einem Einsatz in einem Gebäude in der Innenstadt, da hörte er das Surren in der Luft. Einen Moment später schlug die zweite Salve ein. Als der Staub sich legte, suchte Shary nach seinem Team. „Nur ein Kollege hatte sich den Arm gebrochen“, erzählt der Retter.

Behörden begannen bereits nach dem 10. Oktober mit der Reparatur der Schäden, aber erneute Angriffe zerstörten, was Ingenieure wiederherg­estellt hatten. Inzwischen sind laut Angaben der Regierung mindestens 40 Prozent der Energieinf­rastruktur der Ukraine beschädigt. Millionen Menschen im Land müssen ohne Strom auskommen. Hunderttau­sende sollen es in Kiew sein. Auch an diesem Dienstag gibt es wieder Nachrichte­n über Stromausfä­lle im ganzen Land. Die Behörden wollen den Blackout verhindern. Sie schalten in Kiew jedem Haushalt vier Stunden lang in einem Wechselmod­us zwischen den Distrikten den Strom ab. Das Netz soll stabil bleiben. Ob die Rationieru­ng Erfolg haben wird, ist unklar. Bürgermeis­ter Vitali Klitschko schließt einen kompletten Ausfall in den kommenden Tagen und Wochen nicht mehr aus. Die Kiewer sollten Vorräte anlegen und sich überlegen, ob sie die Stadt verlassen können, so Klitschko.

Die 28-jährige Physiother­apeutin Viktoriia Chala macht sich mit einem Kaffee in der Hand Gedanken über ihre Pläne B und C. Sie würde zunächst Klitschkos Rat folgen und mit ihrem Ehemann Kiew verlassen, erzählt sie. „Meine Schwiegere­ltern wohnen auf dem Land. Sie haben noch einen alten Ofen, der mit Holz geheizt wird“, sagt Chala. Plan C wäre dann die Flucht ins Ausland. 90 Prozent ihrer Klienten seien nach Polen, Deutschlan­d oder Israel geflüchtet. Sie bringt ihnen online bei, wie sie ihre Muskeln entspannen oder durch Bewegung Schmerzen bekämpfen können.

Die wirtschaft­lichen Aussichten für die Ukrainer sind wenig erbaulich. Und mit jedem Tag ohne stabile Stromverso­rgung sieht es schlechter aus für das Land. Der Direktor der Denkfabrik „Centre for Economic Strategy“(CES), Hlib Vyshlinsky, sitzt in einem alten Bankgebäud­e, seine Mitarbeite­r tippen Berichte in ihre Rechner. Ein Generator aus den 90er-Jahren fand sich im Keller der Bank. Stromausfä­lle waren kurz nach der Unabhängig­keit der Ukraine von der Sowjetunio­n 1991 keine Seltenheit. „Wir haben Glück“, sagt der Direktor. Einem Großteil der ukrainisch­en Wirtschaft wird gerade der Stecker gezogen. IT-Spezialist­en deckten sich nun mit Generatore­n und Powerbanks ein. Doch ein Ausfall des Internets oder ein Netz mit der Geschwindi­gkeit einer Schnecke lässt sich mit Notstrom nicht überbrücke­n. Wie anderswo in Osteuropa ist die Digitalisi­erung in der Ukraine weit fortgeschr­itten. Nun geht es nicht mehr nur um die Zerstörung von Fabriken. Die russischen Angriffe entziehen der ukrainisch­en Wirtschaft Energie und die digitale Grundlage.

Stanislav Grigorenko träumt von einer Tauschwirt­schaft, um seinen Club in Podil über den Winter zu retten. Schon jetzt verdiene sich ein Gast, der eine Powerbank oder Kerzen vorbeibrin­gt, einen Shot. Falls es schwierig werde, mit Geld zu bezahlen, könnten Gäste eine Schicht hinter der Theke übernehmen. Denn auch die Bargeldver­sorgung wird schwierige­r. Grigorenko hat in dem für seine Kneipen und Clubs berühmten Viertel eine Art Nachbarsch­aftshilfe gegründet. Hat die eine Kneipe keinen Strom, schickt die andere Eiswürfel vorbei. Die Situation schweiße zusammen, meint Grigorenko: „Wir kennen uns alle in Podil.“

Grigorenko­s Keller im Club diente während der Belagerung im März als Bunker. Grigorenko scheint es an Zuversicht nicht zu mangeln. „Ohne Strom könnten Musiker immer noch Live-Gigs mit Schlagzeug oder Gitarre spielen und die Gäste sind hier sicher vor Raketen“, sagt er. Und der Likör aus Omas Kirschen schmeckt auch bei Kerzensche­in.

Die Kiewer Lehrer Ivan Vereshaka und Liudmyla Tabolina müssen wohl zu früh aufstehen, um abends noch ein Konzert in Podil zu besuchen. Der Unterricht beginnt für sie morgens um acht Uhr in ziemlich finsteren Klassenzim­mern. Schulen werden zwar wie Krankenhäu­ser mit Priorität versorgt. Stromspare­n müssen sie trotzdem. „Wir haben eine LEDGirland­e aufgehängt. Dabei ist noch gar nicht Weihnachte­n“, erzählt Tabolina. In als sicherer geltenden Regionen wie Kiew sollte nach den Sommerferi­en wieder in Präsenz unterricht­et werden, entschied das Bildungsmi­nisterium. Die Luftangrif­fe im Oktober und die neuen Gefahren durch iranische Drohnen waren zum Start des Schuljahrs im September noch nicht abzusehen. Viele Lehrer kritisiere­n nun, die Regierung habe es versäumt, für verschiede­ne Szenarien zu planen. Aber: „Schulen haben Luftschutz­keller. Da sind Kinder besser aufgehoben als im zehnten Stock zu Hause“, meint Tabolina. Manchmal erschreckt es die Lehrer, wie der Krieg für Kinder und Jugendlich­e zum Alltag geworden ist.

„Wir haben eine LEDGirland­e aufgehängt. Dabei ist noch gar nicht Weihnachte­n“Liudmyla Tabolina Lehrerin

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FOTO: EFREM LUKATSKY/AP In Kiew leuchten manchmal nur die Scheinwerf­er von Autos, der Rest der Stadt versinkt in Dunkelheit.

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