„Tablets sind nicht die Lösung“
Der Psychologe spricht über die Anforderungen an digitales Lernen in den Schulen und Angst vor künstlicher Intelligenz.
Herr Gigerenzer, haben wir zu viel Angst vor künstlicher Intelligenz?
GIGERENZER Ja, das ist so. Allerdings ist nicht die KI das Problem, sondern immer die Menschen oder Firmen, die dahinterstehen. Also Firmen, die etwas verkaufen wollen, was nicht funktioniert. Es ist der Marketing-Hype, der die KI problematisch macht. Die Frage ist, wo ist Digitalisierung wirklich nützlich und wo ist es nur PR. KI selbst ist nicht gut oder böse.
Dabei ist KI längst in unserem Alltag angekommen. Wir nutzen Alexa, erlauben in Apps meist gedankenlos jegliche Datenspeicherung oder lassen uns mithilfe von Robotern operieren. Irgendwie passt das nicht zusammen, oder?
GIGERENZER Das stimmt. Wir leben in einer Welt, die wir immer mehr mit Algorithmen teilen. Das Erstaunliche ist dabei, dass die allermeisten davon nur herzlich wenig verstehen oder auch verstehen wollen. Hierzu gibt es zahlreiche Untersuchungen, etwa eine Studie über 400 Vorstände von Dax- und MDaxUnternehmen, die hinterfragte, inwieweit sie durch Aus- oder Weiterbildungen digitalaffin sind. Bei 92 Prozent der Befragten hat man eine solche Affinität nicht gefunden. Und eine britische Studie mit Journalisten, die über KI schreiben, hat ergeben, dass 60 Prozent aller Artikel sich ähnlich lesen wie die PR-Texte der Unternehmen. Als der IBM-Supercomputer Watson für die Krebstherapie vermarkt wurde, war das als „Sensation“in allen Medien; als IBM eingestand, dass Watson bestimmte Anforderungen nicht erfüllte, sondern das Leben von Patienten gefährdet wurde, waren die Medien still. Inzwischen wurde Watson in Teile zerlegt und mit den Patientendaten verkauft. Wir brauchen mehr kritische Journalisten.
Algorithmen sind heute das Hilfsmittel der Wahl für den Blick in die Zukunft. Sie haben Statistikern gerade auch in der Pandemie geholfen, Entwicklungen vorherzusagen. Nicht immer lagen sie damit richtig. Wie tauglich sind sie?
GIGERENZER Algorithmen funktionieren am besten, wenn es sich um ein stabiles Problem handelt, also etwa beim Schach oder beim Verwalten von großen Datenmengen. Wenn wir es aber mit nicht stabilen Situationen zu tun haben, also etwa das Verhalten von Grippe- oder Coronaviren oder von Menschen vorhersagen wollen, dann klappt es nicht mehr so gut. Für ein autonomes Auto ist das größte Problem der menschliche Fahrer.
In Deutschlands Schulen arbeiten Lehrer zum Teil noch immer mit Overhead-Projektoren und kämpfen mit langsamem Internet. Wo steht das deutsche Bildungssystem in Sachen Digitalisierung?
GIGERENZER Im EU-Vergleich rangiert Deutschland im Mittelfeld. Was die Infrastruktur angeht, ist da sicher Luft nach oben im Vergleich zu anderen Ländern. Der Punkt ist, dass man in Deutschland leider fast nur auf die Infrastruktur schaut und nicht, ob die jungen Menschen wirklich verstehen, was Algorithmen mit ihrer Psyche machen, oder wie man Fakten von Fake News unterscheidet.
Unsere Kinder wachsen heute in der digitalen Welt auf. Sie sind die sogenannten Digital Natives. Trotzdem können sie oft nicht einschätzen, ob eine Website vertrauenswürdig ist oder wie man vernünftig recherchiert. Woran liegt das?
GIGERENZER Es wird ihnen schlicht nicht beigebracht. Wenn der Digitalpakt Schule darin besteht, dass man im Wesentlichen Geräte in die Schulen bringt, dann muss man sich nicht wundern. Eine Studie in den OECD-Ländern hat gezeigt, dass etwa 90 Prozent der Jugendlichen nicht wissen, wie man Fakten von Fake News unterscheidet. Die allermeisten verstehen nicht, wie die Algorithmen von Facebook oder Google funktionieren.
Wie funktionieren sie denn?
GIGERENZER Ein konkretes Beispiel: Wenn Sie einen Suchbegriff bei Google eingeben, klicken die meisten auf das erste Ergebnis, weil sie denken, dies sei das wichtigste, relevanteste oder populärste. Sie realisieren nicht, dass jene Ergebnisse oben stehen, für den ein Algorithmus berechnet hat, dass Google hiermit am meisten Geld machen könnte.
Stichwort digitale Kompetenz: Sind die viel geforderten Tablets in Grundschulen hilfreich?
GIGERENZER Ein klares Nein. Tablets in Grundschulen sind nicht die Lösung. Und das ist nicht nur meine Meinung, sondern die aktuelle Studienlage. Untersuchungen haben gezeigt, dass digitale Medien in der Klasse sehr nützlich sind, wenn sie etwa der Lehrer zum Unterrichten nutzt. Wenn aber die Kinder mit Tablets herumhantieren, haben sie nachweislich nichts davon. Im Gegenteil: Sie werden eher in ihrem Lernerfolg zurückgeworfen. Kinder sollten auch nicht die eigenen Geräte in die Schule mitbringen dürfen, wenn sie sie nicht kontrollieren können. Studien zeigen, dass alleine die Anwesenheit eines Handys, selbst wenn es ausgeschaltet ist, die Aufmerksamkeit und Konzentration stört. Ingenieure und Wissenschaftler entwickeln ja Algorithmen, um die Kinder und Jugendlichen auf den Plattformen zu halten. Und wenn sie weg sind, sollen sie den Drang verspüren, schnell wieder dorthin zurückzumüssen.
Was wäre Ihre wichtigste Forderung/Anregung, damit unsere Kinder künftig in der digitalen Welt die richtigen Entscheidungen treffen?
GIGERENZER Ich nennen das digitale Risikokompetenz. Etwa zu wissen, wie man die Vertrauenswürdigkeit von Webseiten beurteilen kann. Hier hilft zum Beispiel der Blick ins Ausland. Finnland etwa ist, was die Verfügbarkeit digitaler Technologie angeht, Deutschland weit voraus. Dort hat man ein ganzes Programm (Faktabaari) zu digitaler Risikokompetenz aufgelegt. So etwas könnte man hier auch machen. Es geht ja nicht darum, Jugendlichen beizubringen, wie man von Tiktok auf Instagram wechselt und gleichzeitig Messages schreibt und Fotos hochlädt. Sondern sie müssen verstehen, wie ihre eigene Psyche durch diese Medien und die dahinterliegenden Algorithmen gefesselt wird. Sie müssen lernen, wie man Fakten von Fake News unterscheiden kann. Um diese Risikokompetenz zu erwerben, brauchen wir aber nicht nur informierte Lehrende an Universitäten und Schulen. Sondern auch die Politik und Journalisten müssen Bescheid wissen über Dinge wie Klick-Disziplin, laterales Lesen und das entsprechende Hintergrundverständnis. Es gibt ja dazu Literatur. Jeder muss wissen: Wenn man nicht bezahlt, ist man nicht der Kunde. Sondern der Kunde sind die werbenden Firmen. Man selbst ist die Ware, wir zahlen mit unserer Aufmerksamkeit, Abhängigkeit und unseren Daten.
Jeder Nutzer kennt die Aufforderung, irgendwelchen Cookies zuzustimmen, wenn er eine Internetseite öffnet. Klicken Sie in einem solchen Fall immer auf „Ja“, wie dies vermutlich die allermeisten Menschen tun?
GIGERENZER Nein. Natürlich nicht.