Kleine Technik, große Freiheit
ANALYSE Im Saarland startete ein Pilotversuch mit GPS-Sendern für Demenzerkrankte. In einigen Einrichtungen in NRW hat sich die Nutzung dieser Geräte bereits etabliert. Doch eine Frage bleibt: Ist diese Methode berechtigt?
Ende Juni verließ die 82jährige RosaMarie Schmelzer ihr Zimmer in einer Sulzbacher Klinik – und kehrte nie wieder zurück. Die demenzkranke Patientin war nach einer KnieOperation plötzlich verschwunden, bis heute fehlt von ihr jede Spur. Immer wieder werden demente Senioren und Seniorinnen vermisst oder sogar tot aufgefunden. Die Sulzbacher Klinik im Saarland nahm den Vorfall aus dem Sommer zum Anlass, den Einsatz von GPSSendern zu testen. Klingt sinnvoll, ist aber umstritten: Ist es ein Einschnitt in die persönliche Freiheit oder wird eine solche Freiheit für Demenzerkrankte mit Ortungsgeräten erst ermöglicht?
Das Team von Beate LinzEßer kennt das Problem: „Wir haben Bewohner und Bewohnerinnen, die einen starken Bewegungsdrang haben und das Haus oft verlassen“, sagt die Geschäftsführerin der Seniorendienste Stadt Hilden und Leiterin des Seniorenzentrums Erikaweg. Ein offenes Haus, in dem die Menschen rein und raus können, wie sie wollen. Problematisch werde es, wenn sie nicht mehr zurückfänden: „Wir haben schon Bewohner gehabt, die wir in der Düsseldorfer Altstadt wiedergefunden haben.“
Auf der Suche nach Möglichkeiten im Umgang mit diesen Bewohnern bleibe dann häufig nur eine Alternative: eine geschlossene Einrichtung. „Das ist die unschönste Lösung, denn dann können die Menschen ihrem Bewegungsdrang gar nicht mehr nachgehen“, kritisiert die Leiterin.
Um den Bewohnern diese Freiheit zu ermöglichen und dennoch für ihre Sicherheit zu sorgen, hat sich das Seniorenzentrum Erikaweg für den Einsatz von GPSSendern entschieden. Für jeden Demenzpatienten wird dann darüber diskutiert, ob er noch sicher am
Straßenverkehr teilnehmen kann – eine Grundvoraussetzung –, bevor den Angehörigen die Nutzung eines solchen Ortungsgeräts vorgeschlagen wird. Allein bei ihnen liegt die Entscheidung, ob ein GPSGerät eingesetzt wird, in welchem Radius – und wer wie im Vermisstenfall die Suche übernimmt. Das Pflegeheim ist dafür nicht zuständig.
Der Sender wird somit erst im Notfall aktiviert. Er zeichnet die Bewegung der Senioren nicht den ganzen Tag auf. Verglichen mit einem durchgängigen Aufzeichnen hält die Dienststelle der Landesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit (LDI) NRW das für eine milde Maßnahme.
Aber: „Damit geht doch immer eine Einschränkung des Freiheitsrechts auf informationelle Selbstbestimmung einher“, betont ein Pressesprecher der LDI. Die Nutzung von GPSTrackern bei Demenzkranken dürfte immer nur nach vorheriger Einwilligung der betroffenen Personen selbst oder Bevollmächtigten möglich sein.
Gleichzeitig müsse in jedem Einzelfall abgewogen werden: „Auf der einen Seite die Möglichkeiten der technischen Überwachung, auf der anderen Seite das informelle Selbstbestimmungsrecht und die Menschenwürde der Betroffenen.“Eine relevante Frage, die rechtliche Vorgaben und Einschätzungen nicht beantworten können, ist: Was steht für diese Seniorinnen und Senioren selbst im Vordergrund, was ist ihnen persönlich wichtiger? Die Hoheit über die eigenen personenbezogenen Daten zu behalten oder die Möglichkeit, sich vermeintlich frei zu bewegen, das Haus zu verlassen und den Park nebenan aufzusuchen?
Die Entscheidung für oder gegen einen Sender ist so individuell wie jeder Mensch, sie muss immer mit Blick auf den jeweiligen Einzelfall gefällt werden. Auch Jörg Schmidt, Geschäftsführer der
Städtischen Seniorenheime Krefeld, betont die Bedeutung der Abstimmung mit allen Beteiligten. GPSSysteme werden in Krefelder Pflegeheimen momentan nicht genutzt – aber es bestehe die Möglichkeit. Die Ortungsgeräte werden von der Einrichtung zur Verfügung gestellt und ebenfalls nach vorheriger Zustimmung der Angehörigen genutzt. Der Tracker wird aktiviert, wenn eine Person für einen längeren Zeitraum die Einrichtung verlassen hat. Erst dann wird ein Standort übermittelt. „Es geht also nicht darum, Bewegungsprofile aufzuzeichnen“, erklärt Schmidt.
In den Einrichtungen in Krefeld ist der Einsatz trotzdem diskutiert worden. „Freiheitsberaubung beginnt aber an einer anderen Stelle“, sagt Schmidt. Grundsätzlich kann keine Pflegekraft einen Bewohner zur Rückkehr zwingen, wenn er irgendwo außerhalb aufgefunden wird. Sie können lediglich versuchen, Demenzkranke zu motivieren, freiwillig zurückzugehen. Die Senioren gegen ihren Willen zurückzuführen – das sei Freiheitsberaubung.
Schmidt sieht in den Ortungsgeräten aber nicht nur eine mögliche Entlastung und gesteigerte Sicherheit, sondern auch eine neue Form der Auseinandersetzung: „Natürlich ist das ein Eingriff in die Rechte der Person, aber wenn wir das ansprechen und darüber diskutieren, sind wir schon ein großes Stück weiter, was den Blick auf die Bedürfnisse der Menschen angeht.“
Letztendlich stellt sich also die Frage, was höher zu bewerten ist: Freiheit oder Datenschutz? Natürlich sollte niemand in diesem Land überwacht werden. Darum geht es auch nicht: Es geht nicht um die Aufzeichnung eines Bewegungsprofils. Der Sender ist keine Fußfessel, der die Bewohner an die Einrichtung binden soll – im Gegenteil. Er ermöglicht Menschen, die andernfalls in eine geschlossene Anstalt verwiesen werden müssten, ein letztes Stück Selbstbestimmung. Das Ortungsgerät erlaubt ihnen, sich freier bewegen zu können, ohne ihre Sicherheit zu riskieren.
„Senioren gegen ihren Willen zurückführen ist Freiheitsberaubung“Jörg Schmidt Geschäftsführer Seniorenheime Krefeld