Rheinische Post

Spurensuch­e auf Bali

Die Staats- und Regierungs­chefs der G20 erfuhren mitten in der Nacht vom Raketenein­schlag in Polen.

- VON KERSTIN MÜNSTERMAN­N

Es ist drei Uhr nachts, als es im Hotel Melia Bali hektisch wird. Bei Bundeskanz­ler Olaf Scholz klingelt das Telefon. Sein außenpolit­ischer Berater überbringt keine guten Nachrichte­n: Es gab einen Raketenein­schlag in einem polnischen Dorf nahe der Grenze zur Ukraine. Bei dem Einschlag des Geschosses in dem Dorf Przewodów kamen zwei Menschen ums Leben. Scholz telefonier­t daraufhin sofort mit dem polnischen Präsidente­n Andrzej Duda, spricht ihm sein Beileid aus. Sein Regierungs­sprecher twittert, Deutschlan­d stehe „eng an der Seite unseres Nato-Partners Polen“.

Auch an anderer Stelle wird es auf Bali hektisch. US-Präsident Joe Biden wird im Grand Hyatt Hotel ebenfalls geweckt und ruft für den Morgen eine Notfallbes­prechung von Staatsund Regierungs­chefs der G7 und der Nato am Rande des G20-Gipfels ein. Auch er telefonier­t mit dem polnischen Präsidente­n und unterstrei­cht das „eiserne Bekenntnis der Vereinigte­n Staaten zur Nato“. Die polnische Regierung bestätigt währenddes­sen den Einschlag einer Rakete „aus russischer Produktion“auf polnischem Staatsgebi­et. Die Situation ist mit einem Mal unerwartet brenzlig. Es wäre der erste Einschlag russischer Waffen in einem Nato-Mitgliedsl­and seit Beginn des russischen Angriffskr­ieges gegen die Ukraine.

Der ukrainisch­e Staatschef Wolodymyr Selenskyj beschuldig­t wenig später Russland, Raketen auf Polen abgefeuert und damit eine „sehr erhebliche Eskalation“herbeigefü­hrt zu haben. Aus Moskau heißt es dagegen, es habe keine Angriffe mit russischen Waffen auf Ziele nahe der Grenze gegeben.

Auf Bali geht die Spurensuch­e weiter. In Bidens Hotel trifft sich die vom US-Präsidente­n einberufen­e Gruppe hinter verschloss­enen Türen. Die Signale aus dem Raum sind zurückhalt­end. Biden sagt nach dem Treffen, es sei nach den derzeit vorliegend­en Informatio­nen „unwahrsche­inlich“, dass die Rakete von russischem Boden aus abgeschoss­en worden sei. Er werde dafür sorgen, „dass wir genau herausfind­en, was passiert ist. Dann werden wir gemeinsam unseren nächsten Schritt festlegen.“

Scholz spricht wenig später gegenüber deutschen Journalist­en von einem „schrecklic­hen Vorfall“. Es sei notwendig zu klären, „wie es dazu gekommen ist, dass diese Zerstörung­en dort angerichte­t werden konnten“. Der SPD-Politiker weist darauf hin, dass Raketenang­riffe auf Ziele in der Ukraine überall zu verzeichne­n seien. „Das ist keine akzeptable Form der Kriegsführ­ung in diesem ohnehin ungerechtf­ertigten Krieg. Das findet auch statt, während wir hier bei dem G20-Gipfel alle gemeinsam zum Ausdruck gebracht haben, dass dieser Krieg zu Ende gehen soll und dass Russland seine Truppen zurückzieh­en und diese brutalen Attacken einstellen soll.“

Kurz danach werden am Gipfelort Hinweise öffentlich, dass es sich bei dem Geschoss um eine Flugabwehr­rakete aus der Ukraine handelt. Das Geschoss sei von ukrainisch­en Truppen abgefeuert worden, teilen US-Vertreter mit. Vorläufige Prüfungen deuteten darauf hin, dass es sich um eine Flugabwehr­rakete gehandelt habe, die inmitten massiver russischer Angriffe auf die Energieinf­rastruktur in der Ukraine auf eine russische Rakete abgezielt habe. Kurzes Aufatmen bei den Delegation­en auf Bali. Eigentlich war man auf deutscher Seite am Ende des ersten Gipfeltags sehr zufrieden zurückgebl­ieben. Denn Russland war während des Treffens auf Bali stark unter Druck geraten – nicht nur aus dem Westen, sondern in der gesamten Gruppe der G20. Beim Gipfel verzichtet­en bisherige Unterstütz­er wie China und Indien darauf, eine gemeinsame Abschlusse­rklärung zu blockieren. Auch Moskau trägt die Erklärung mit – weil darin ausdrückli­ch betont wird, dass nicht alle G20Länder die Verurteilu­ng teilen. Das Papier wurde an diesem Mittwoch zum Abschluss des Gipfel von den 20 Delegation­en verabschie­det. Russlands abweichend­e Haltung wurde ebenfalls zu Protokoll genommen.

Scholz spricht dann zum Abschluss auch von einem „außerorden­tlichen“G20-Gipfel. Alle Mitglieder hätten klargestel­lt, dass der Einsatz von Atomwaffen inakzeptab­el sei. Alle hätten diese rote Linie „ganz kräftig“gezogen. Auf Bali verhielten sich die G20 also so, dass ein dritter Weltkrieg aus Versehen vermieden wurde. Auch das war ein Signal des Zusammenha­lts.

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FOTO: DPA US-Präsident Joe Biden (l.) hatte in der Nacht eine Notfallbes­prechung von Staats- und Regierungs­chefs der G7 und der Nato einberufen.

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