Solide, besonnen, entschieden
Nach der Explosion in Polen sieht die Ukraine den Bündnisfall gegen Russland gegeben. Doch die Nato schließt das aus.
BRÜSSELRussland greift mit rund 100 Raketen Ziele in zahlreichen Regionen auch im Westen der Ukraine an, um die Energieversorgung zu zerstören, und dann wird während dieser Angriffe eine Ortschaft in Polen getroffen, die in unmittelbarer Nähe zur zentralen Energieverbindung zwischen der EU und der Ukraine liegt. Zwei Menschen sterben. Schockiert reagiert die Welt am Dienstagabend bis in die Nacht hinein, als das polnische Kabinett die Alarmbereitschaft der Streitkräfte erhöht. Im Brüsseler Hauptquartier hingegen bleiben die ersten Reaktionen von Zurückhaltung geprägt. Man prüfe.
Polens Präsident Andrzej Duda und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg nehmen in der Nacht noch Kontakt auf und verständigen sich darauf, die Nachforschungen abwarten zu wollen. Wenn Russland denn eine oder sogar zwei Raketen auf einen
Nato-Staat abgefeuert haben soll, warum hat das Raketenabwehrsystem der Nato dann nicht reagiert? Stoltenberg wird am nächsten Mittag dafür eine anscheinend einfache Erklärung liefern. Die Rakete habe in ihrem Anflug kein „charakteristisches“Angriffsmuster aufgewiesen, erläutert der Generalsekretär. Nach wie vor sei die Raketenabwehr der Nato rund um die Uhr jederzeit einsatzbereit, werde von Aufklärungsjets und verschiedenen Beobachtungsstationen unterstützt und sei auf solche Situationen vorbereitet.
Die hochmoderne Satelliten-Beobachtung der Amerikaner jedenfalls kann bei ihren Bemühungen, die Flugbewegungen Richtung Polen nachzuvollziehen, keine Spuren Richtung Polen verfolgen, die von russisch besetzten oder russischen Gebieten ausgegangen sind. Damit sei es
plausibler, dass der Vorfall „wahrscheinlich durch eine ukrainische Flugabwehrrakete verursacht“worden sein könnte, lautet der interne Befund. Damit steht auch die Formel des Nato-Generalsekretärs als Ergebnis der Krisensitzung des Nordatlantik-Rates am Mittwoch fest: „Es gibt keinen Hinweis auf einen vorsätzlichen Angriff.“
Damit ist die Nato auch in einer Situation höchster Alarmstimmung ihrer von Beginn des russischen Angriffskrieges
gepflegten Linie treu geblieben: Bloß nicht eskalieren, nur nicht Kriegspartei werden. Deswegen lehnte die Nato das ukrainische Begehren ab, eine Flugverbotszone einzurichten. Deshalb lehnten es die Nato-Soldaten ab, auch nur zu Ausbildungszwecken Fachleute in die Ukraine zu bringen. Stoltenberg betont, die Nato werde stets einen „soliden, besonnenen, entschiedenen Weg“wählen, der zugleich jeder weiteren Eskalation vorbeuge.
Die Faktenlage bei Licht am Mittwoch im Brüsseler Hauptquartier bestätigt die Zurückhaltung der Nacht. Dagegen häufen sich in Osteuropa in den ersten Stunden nach den Explosionen die Aufrufe, sich auf eine entschiedene Antwort vorzubereiten. Die Ukraine verweist auf Artikel 5, der die Nato-Staaten zu gegenseitigem Beistand verpflichtet. In Warschau wird in der
Nacht über Artikel 4 gesprochen (siehe Info). Als in Warschau die Sonne wieder aufgeht, verzichtet das NatoMitglied Polen auch darauf.
Es versteht sich von selbst, dass die Nato-Botschafter am Morgen auch über die Krisenlage beraten. Sie sind sich einig, dass die Ukraine für die durch ihre Abwehrrakete ausgelösten Schäden in Polen keine Schuld treffe. Die Ukraine habe das Recht, sich gegen russische Angriffe zu verteidigen, unterstreicht Stoltenberg. Die Verantwortung für den Zwischenfall liege bei Russland, dessen Krieg diese Entwicklung ausgelöst habe. Als Konsequenz müsse die ukrainische Luftabwehr verstärkt werden. Die genauen Vorgänge bleiben zunächst im Bereich der Spekulation, etwa die Frage, ob es sowohl russische als auch ukrainische Raketenteile waren, die in Polen einschlugen. Beide Seiten setzen schließlich das Raketensystem S-300 ein – die einen zum Angriff auf die Infrastruktur, die anderen zur Abwehr von Raketen.