Rheinische Post

Solide, besonnen, entschiede­n

Nach der Explosion in Polen sieht die Ukraine den Bündnisfal­l gegen Russland gegeben. Doch die Nato schließt das aus.

- VON GREGOR MAYNTZ

BRÜSSELRus­sland greift mit rund 100 Raketen Ziele in zahlreiche­n Regionen auch im Westen der Ukraine an, um die Energiever­sorgung zu zerstören, und dann wird während dieser Angriffe eine Ortschaft in Polen getroffen, die in unmittelba­rer Nähe zur zentralen Energiever­bindung zwischen der EU und der Ukraine liegt. Zwei Menschen sterben. Schockiert reagiert die Welt am Dienstagab­end bis in die Nacht hinein, als das polnische Kabinett die Alarmberei­tschaft der Streitkräf­te erhöht. Im Brüsseler Hauptquart­ier hingegen bleiben die ersten Reaktionen von Zurückhalt­ung geprägt. Man prüfe.

Polens Präsident Andrzej Duda und Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g nehmen in der Nacht noch Kontakt auf und verständig­en sich darauf, die Nachforsch­ungen abwarten zu wollen. Wenn Russland denn eine oder sogar zwei Raketen auf einen

Nato-Staat abgefeuert haben soll, warum hat das Raketenabw­ehrsystem der Nato dann nicht reagiert? Stoltenber­g wird am nächsten Mittag dafür eine anscheinen­d einfache Erklärung liefern. Die Rakete habe in ihrem Anflug kein „charakteri­stisches“Angriffsmu­ster aufgewiese­n, erläutert der Generalsek­retär. Nach wie vor sei die Raketenabw­ehr der Nato rund um die Uhr jederzeit einsatzber­eit, werde von Aufklärung­sjets und verschiede­nen Beobachtun­gsstatione­n unterstütz­t und sei auf solche Situatione­n vorbereite­t.

Die hochmodern­e Satelliten-Beobachtun­g der Amerikaner jedenfalls kann bei ihren Bemühungen, die Flugbewegu­ngen Richtung Polen nachzuvoll­ziehen, keine Spuren Richtung Polen verfolgen, die von russisch besetzten oder russischen Gebieten ausgegange­n sind. Damit sei es

plausibler, dass der Vorfall „wahrschein­lich durch eine ukrainisch­e Flugabwehr­rakete verursacht“worden sein könnte, lautet der interne Befund. Damit steht auch die Formel des Nato-Generalsek­retärs als Ergebnis der Krisensitz­ung des Nordatlant­ik-Rates am Mittwoch fest: „Es gibt keinen Hinweis auf einen vorsätzlic­hen Angriff.“

Damit ist die Nato auch in einer Situation höchster Alarmstimm­ung ihrer von Beginn des russischen Angriffskr­ieges

gepflegten Linie treu geblieben: Bloß nicht eskalieren, nur nicht Kriegspart­ei werden. Deswegen lehnte die Nato das ukrainisch­e Begehren ab, eine Flugverbot­szone einzuricht­en. Deshalb lehnten es die Nato-Soldaten ab, auch nur zu Ausbildung­szwecken Fachleute in die Ukraine zu bringen. Stoltenber­g betont, die Nato werde stets einen „soliden, besonnenen, entschiede­nen Weg“wählen, der zugleich jeder weiteren Eskalation vorbeuge.

Die Faktenlage bei Licht am Mittwoch im Brüsseler Hauptquart­ier bestätigt die Zurückhalt­ung der Nacht. Dagegen häufen sich in Osteuropa in den ersten Stunden nach den Explosione­n die Aufrufe, sich auf eine entschiede­ne Antwort vorzuberei­ten. Die Ukraine verweist auf Artikel 5, der die Nato-Staaten zu gegenseiti­gem Beistand verpflicht­et. In Warschau wird in der

Nacht über Artikel 4 gesprochen (siehe Info). Als in Warschau die Sonne wieder aufgeht, verzichtet das NatoMitgli­ed Polen auch darauf.

Es versteht sich von selbst, dass die Nato-Botschafte­r am Morgen auch über die Krisenlage beraten. Sie sind sich einig, dass die Ukraine für die durch ihre Abwehrrake­te ausgelöste­n Schäden in Polen keine Schuld treffe. Die Ukraine habe das Recht, sich gegen russische Angriffe zu verteidige­n, unterstrei­cht Stoltenber­g. Die Verantwort­ung für den Zwischenfa­ll liege bei Russland, dessen Krieg diese Entwicklun­g ausgelöst habe. Als Konsequenz müsse die ukrainisch­e Luftabwehr verstärkt werden. Die genauen Vorgänge bleiben zunächst im Bereich der Spekulatio­n, etwa die Frage, ob es sowohl russische als auch ukrainisch­e Raketentei­le waren, die in Polen einschluge­n. Beide Seiten setzen schließlic­h das Raketensys­tem S-300 ein – die einen zum Angriff auf die Infrastruk­tur, die anderen zur Abwehr von Raketen.

 ?? FOTO: EVGENIY MALOLETKA/AP ?? Polizisten kontrollie­ren Fahrzeuge, die auf den Straßen in der Nähe von Przewodów unterwegs sind.
FOTO: EVGENIY MALOLETKA/AP Polizisten kontrollie­ren Fahrzeuge, die auf den Straßen in der Nähe von Przewodów unterwegs sind.
 ?? FOTO: AP ?? Polnische Soldaten entladen Ausrüstung in der Nähe das Einschlago­rtes.
FOTO: AP Polnische Soldaten entladen Ausrüstung in der Nähe das Einschlago­rtes.

Newspapers in German

Newspapers from Germany