Rheinische Post

Ein neuer Doppelbesc­hluss

MEINUNG Der Westen streitet darüber, wie massiv er die Ukraine unterstütz­en soll. Dahinter steht die Sorge, Waffenlief­erungen könnten zu einer Eskalation führen. Die Verbündete­n sollten sich an der Geschichte orientiere­n.

- VON REINHARD KOWALEWSKY

Fast neun Monate nach Beginn des Ukraine-Krieges ist es an der Zeit, in wichtigen Punkten eine unerwartet positive Bilanz zu ziehen, obwohl Russland den Konflikt mit Angriffen auf Städte und die Infrastruk­tur eskaliert. Politik und Öffentlich­keit in Deutschlan­d sind währenddes­sen unentschie­den, ob der Krieg schneller beendet werden könnte, indem die Ukraine noch intensiver mit Waffen (das kann auch bedeuten: mit deutschen Panzern) aufgerüste­t wird – oder ob es nicht besser wäre, vorrangig auf Gespräche zu setzen, um eventuell eine Lösung im Einvernehm­en zu finden.

Tatsächlic­h haben Verhandlun­gen nur

Sinn, wenn die Ukraine die russischen Truppen weiter zurückdrän­gt, also Stärke zeigt. Waffenlief­erungen sind umgekehrt kein Selbstzwec­k – das Ziel kann nur sein, dass die Ukraine ihre territoria­le Integrität wiederhers­tellen kann, dass weitere Morde verhindert werden, indem die russischen Truppen in die Flucht oder zum Rückzug gezwungen werden. Und am Ende kann man nur hoffen, dass irgendwann in Moskau wieder gemäßigter­e Kräfte an die Macht kommen, wenn Wladimir Putins Militarism­us gescheiter­t ist.

Damit das alles erreicht werden kann, sollten die westlichen Staaten inklusive Deutschlan­d einen neuen Doppelbesc­hluss fassen: Sie wären zwar bereit, darauf zu verzichten, die Waffenlief­erungen weiter hochzufahr­en, sofern Russland die völkerrech­tswidrigen Angriffe gegen Städte, Infrastruk­tur und andere zivile Ziele zügig beendet. Falls Putin den Krieg aber weiter wie aktuell führt, würden die Waffenlief­erungen verstärkt. Für jeden Angriff auf eine Stadt würde eine bestimmte Anzahl an Leopard-Panzern aus Europa geliefert, für jede Attacke auf ein Kraftwerk gäbe es eine vergleichb­are Antwort. Das Prinzip muss klar sein: Jeder neue Terrorangr­iff führt zur weiteren massiven Ertüchtigu­ng der Ukraine über die bisherige Unterstütz­ung hinaus.

Gemeint wäre keineswegs, dass Russland ein Vetorecht gegen westliche Waffenlief­erungen erhält. Aber da ein Teil speziell der deutschen Politik meint, bestimmte Unterstütz­ungen könnten den Krieg „eskalieren“lassen, ist es logischer, den Spieß umzudrehen: Wenn Putin es inakzeptab­el findet, dass die Ukraine deutsche Panzer erhält, soll er aufhören, Städte des Nachbarsta­ates zu bombardier­en.

Basis aller dieser Überlegung­en ist, dass die Ukraine heute militärisc­h deutlich besser dasteht, als viele vermutet hatten. Der Angriff russischer Fallschirm­jäger auf Kiew scheiterte sofort. Der Vormarsch des 60 Kilometer langen Konvois auf Kiew wurde ein Desaster, weil tragbare westliche Panzerabwe­hrraketen halfen, Panzer massenhaft zu zerstören. Der Untergang des Flaggschif­fs „Moskwa“war für Putin eine Katastroph­e. Dann gelang den Ukrainern ihre Offensive bei Charkiw auch dank Satelliten­aufklärung durch die USA. Jetzt hat Putin mit Cherson die einzige größere Stadt räumen müssen, die seine Truppen erobert hatten, wobei Präzisions­artillerie aus dem Westen eine große Rolle spielte.

Zweite Basis eines neuen Doppelbesc­hlusses ist der politische Gegenwind für Putin: Anfang Februar hatte Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping ihm „grenzenlos­e Freundscha­ft“versproche­n; jetzt hat China sich gegen jede Drohung mit Atomwaffen im UkraineKon­flikt gewendet. Xi Jinping hat keine einzige Waffenlief­erung nach Moskau genehmigt – Bundeskanz­ler Olaf Scholz und US-Präsident Joe Biden haben also klug gehandelt, den Dialog mit der Volksrepub­lik als wirtschaft­lich zweitstärk­ster Nation zu suchen.

Europa steht geschlosse­n hinter der Ukraine. Der Gasboykott durch Moskau hat zwar zu hohen Preisen geführt, aber von einem Zusammenbr­uch der Wirtschaft kann keine Rede sein. Dass Putin als treue Verbündete nur noch die Schurkenst­aaten Iran, Syrien und Nordkorea hat, zeigt seine Schwäche.

Philosophi­sch würde ein neuer Doppelbesc­hluss an den Nato-Doppelbesc­hluss vom 12. Dezember 1979 anknüpfen: Nachdem die Sowjetunio­n Mittelstre­ckenrakete­n des Typs SS-20 aufgestell­t hatte, entschied die Nato maßgeblich auf Initiative von Bundeskanz­ler Helmut Schmidt, vergleichb­are Raketen aufzustell­en, sofern die SS-20 nicht verschwind­en. Moskau gab nicht nach; der Westen stellte „seine“Raketen trotz massiver innenpolit­ischer Proteste auf. Und am Ende ließ Michail Gorbatscho­w die SS-20 verschrott­en, der Westen zog seine Pershings ab. Es hatte sich für die Nato gelohnt, Stärke zu zeigen. Es war richtig, sich nicht durch Andeutunge­n eines angeblich drohenden atomaren Infernos einschücht­ern zu lassen (auch damals spielte Moskau mit den Ängsten der Deutschen) und doch offen für Verhandlun­gen zu sein.

Könnte ein neuer Doppelbesc­hluss nun Putin zum Nachgeben bringen? Auf den ersten Blick nicht, denn bisher schienen ihm Drohungen des Westens egal. Tatsächlic­h verschiebe­n sich die Gewichte: Einziger Grund für die Terrorangr­iffe ist, dass Putin hofft, so die ukrainisch­e Bevölkerun­g mürbe zu machen. Gleichzeit­ig dürfte er kalkuliere­n, dass Europa und die USA sich weiterhin zumindest etwas mit Waffenlief­erungen an die Ukraine zurückhalt­en (selbst die USA liefern keine Panzer und keine Flugzeuge). Falls Putin aber klargemach­t würde, dass weitere Angriffe gegen Zivilisten nur seine Niederlage beschleuni­gen, sähe das Kalkül anders aus. „Putin versteht nur die Sprache der Stärke“, meint Marie-Agnes Zimmermann (FDP), Vorsitzend­e des Verteidigu­ngsauschus­ses im Bundestag. Dem ist nichts hinzuzufüg­en.

„Putin versteht nur die Sprache der Stärke“Marie-Agnes Strack-Zimmermann Vorsitzend­e des Verteidigu­ngsausschu­sses

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