Ein neuer Doppelbeschluss
MEINUNG Der Westen streitet darüber, wie massiv er die Ukraine unterstützen soll. Dahinter steht die Sorge, Waffenlieferungen könnten zu einer Eskalation führen. Die Verbündeten sollten sich an der Geschichte orientieren.
Fast neun Monate nach Beginn des Ukraine-Krieges ist es an der Zeit, in wichtigen Punkten eine unerwartet positive Bilanz zu ziehen, obwohl Russland den Konflikt mit Angriffen auf Städte und die Infrastruktur eskaliert. Politik und Öffentlichkeit in Deutschland sind währenddessen unentschieden, ob der Krieg schneller beendet werden könnte, indem die Ukraine noch intensiver mit Waffen (das kann auch bedeuten: mit deutschen Panzern) aufgerüstet wird – oder ob es nicht besser wäre, vorrangig auf Gespräche zu setzen, um eventuell eine Lösung im Einvernehmen zu finden.
Tatsächlich haben Verhandlungen nur
Sinn, wenn die Ukraine die russischen Truppen weiter zurückdrängt, also Stärke zeigt. Waffenlieferungen sind umgekehrt kein Selbstzweck – das Ziel kann nur sein, dass die Ukraine ihre territoriale Integrität wiederherstellen kann, dass weitere Morde verhindert werden, indem die russischen Truppen in die Flucht oder zum Rückzug gezwungen werden. Und am Ende kann man nur hoffen, dass irgendwann in Moskau wieder gemäßigtere Kräfte an die Macht kommen, wenn Wladimir Putins Militarismus gescheitert ist.
Damit das alles erreicht werden kann, sollten die westlichen Staaten inklusive Deutschland einen neuen Doppelbeschluss fassen: Sie wären zwar bereit, darauf zu verzichten, die Waffenlieferungen weiter hochzufahren, sofern Russland die völkerrechtswidrigen Angriffe gegen Städte, Infrastruktur und andere zivile Ziele zügig beendet. Falls Putin den Krieg aber weiter wie aktuell führt, würden die Waffenlieferungen verstärkt. Für jeden Angriff auf eine Stadt würde eine bestimmte Anzahl an Leopard-Panzern aus Europa geliefert, für jede Attacke auf ein Kraftwerk gäbe es eine vergleichbare Antwort. Das Prinzip muss klar sein: Jeder neue Terrorangriff führt zur weiteren massiven Ertüchtigung der Ukraine über die bisherige Unterstützung hinaus.
Gemeint wäre keineswegs, dass Russland ein Vetorecht gegen westliche Waffenlieferungen erhält. Aber da ein Teil speziell der deutschen Politik meint, bestimmte Unterstützungen könnten den Krieg „eskalieren“lassen, ist es logischer, den Spieß umzudrehen: Wenn Putin es inakzeptabel findet, dass die Ukraine deutsche Panzer erhält, soll er aufhören, Städte des Nachbarstaates zu bombardieren.
Basis aller dieser Überlegungen ist, dass die Ukraine heute militärisch deutlich besser dasteht, als viele vermutet hatten. Der Angriff russischer Fallschirmjäger auf Kiew scheiterte sofort. Der Vormarsch des 60 Kilometer langen Konvois auf Kiew wurde ein Desaster, weil tragbare westliche Panzerabwehrraketen halfen, Panzer massenhaft zu zerstören. Der Untergang des Flaggschiffs „Moskwa“war für Putin eine Katastrophe. Dann gelang den Ukrainern ihre Offensive bei Charkiw auch dank Satellitenaufklärung durch die USA. Jetzt hat Putin mit Cherson die einzige größere Stadt räumen müssen, die seine Truppen erobert hatten, wobei Präzisionsartillerie aus dem Westen eine große Rolle spielte.
Zweite Basis eines neuen Doppelbeschlusses ist der politische Gegenwind für Putin: Anfang Februar hatte Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping ihm „grenzenlose Freundschaft“versprochen; jetzt hat China sich gegen jede Drohung mit Atomwaffen im UkraineKonflikt gewendet. Xi Jinping hat keine einzige Waffenlieferung nach Moskau genehmigt – Bundeskanzler Olaf Scholz und US-Präsident Joe Biden haben also klug gehandelt, den Dialog mit der Volksrepublik als wirtschaftlich zweitstärkster Nation zu suchen.
Europa steht geschlossen hinter der Ukraine. Der Gasboykott durch Moskau hat zwar zu hohen Preisen geführt, aber von einem Zusammenbruch der Wirtschaft kann keine Rede sein. Dass Putin als treue Verbündete nur noch die Schurkenstaaten Iran, Syrien und Nordkorea hat, zeigt seine Schwäche.
Philosophisch würde ein neuer Doppelbeschluss an den Nato-Doppelbeschluss vom 12. Dezember 1979 anknüpfen: Nachdem die Sowjetunion Mittelstreckenraketen des Typs SS-20 aufgestellt hatte, entschied die Nato maßgeblich auf Initiative von Bundeskanzler Helmut Schmidt, vergleichbare Raketen aufzustellen, sofern die SS-20 nicht verschwinden. Moskau gab nicht nach; der Westen stellte „seine“Raketen trotz massiver innenpolitischer Proteste auf. Und am Ende ließ Michail Gorbatschow die SS-20 verschrotten, der Westen zog seine Pershings ab. Es hatte sich für die Nato gelohnt, Stärke zu zeigen. Es war richtig, sich nicht durch Andeutungen eines angeblich drohenden atomaren Infernos einschüchtern zu lassen (auch damals spielte Moskau mit den Ängsten der Deutschen) und doch offen für Verhandlungen zu sein.
Könnte ein neuer Doppelbeschluss nun Putin zum Nachgeben bringen? Auf den ersten Blick nicht, denn bisher schienen ihm Drohungen des Westens egal. Tatsächlich verschieben sich die Gewichte: Einziger Grund für die Terrorangriffe ist, dass Putin hofft, so die ukrainische Bevölkerung mürbe zu machen. Gleichzeitig dürfte er kalkulieren, dass Europa und die USA sich weiterhin zumindest etwas mit Waffenlieferungen an die Ukraine zurückhalten (selbst die USA liefern keine Panzer und keine Flugzeuge). Falls Putin aber klargemacht würde, dass weitere Angriffe gegen Zivilisten nur seine Niederlage beschleunigen, sähe das Kalkül anders aus. „Putin versteht nur die Sprache der Stärke“, meint Marie-Agnes Zimmermann (FDP), Vorsitzende des Verteidigungsauschusses im Bundestag. Dem ist nichts hinzuzufügen.
„Putin versteht nur die Sprache der Stärke“Marie-Agnes Strack-Zimmermann Vorsitzende des Verteidigungsausschusses