Lasst die Züge wieder rollen
Russland nimmt ständig das ukrainische Eisenbahnnetz ins Visier. Aber trotz aller Herausforderungen läuft der Verkehr weitgehend – und zwar nach Fahrplan. Improvisation heißt das Gebot.
KIEW (ap) Die Anordnungen kamen von ganz oben, vom ukrainischen Präsidenten und einem seiner Minister: Lass die Züge wieder rollen, in die Stadt, die jüngst von unseren Truppen zurückerobert worden ist. „Also buchstäblich Panzer, dann Züge“, sagt der Chef des ukrainischen Eisenbahnnetzes, Olexandr Kamyschin, rückblickend über die Anweisungen, die er erhielt, als die Stadt Cherson nach achtmonatiger russischer Besetzung befreit wurde.
Es ist eine der bitteren Lektionen, die Ukrainer in den fast neun Monaten seit Beginn der russischen Invasion lernen mussten: Was heute da ist, kann morgen zerstört sein – und es gibt nichts im Krieg, das man für selbstverständlich halten kann.
Außer, vielleicht, die Ukrsalisnyzja. Die nationale Eisenbahngesellschaft weist stolz darauf hin, dass im vergangenen Monat 85 Prozent der Züge fahrplanmäßig verkehrten. In nächtlichen Zügen, die durch das Land rattern, werden Passagiere weiterhin mit heißem Tee und frischen Laken in den Schlafwagenabteilen begrüßt. Neben Menschen befördern Züge Fracht, Hilfsgüter und Ausrüstung, die zum Kampf gegen die Invasoren benötigt wird. Die Eisenbahn ist auch der einfachste Weg für ausländische Führungspersönlichkeiten, Präsident Wolodymyr Selenskyj in Kiew zu treffen, denn die Hauptstadt kann wegen des Krieges nicht auf dem Luftweg erreicht werden.
Die Züge rollen also, trotz der Tausenden von Raketen, Bomben und Artilleriegeschützen, die Brücken zerstört, Gleise gesprengt und, wie Kamyschin sagt, inzwischen an die 300 Eisenbahnarbeiter getötet und fast 600 weitere verletzt haben. „Wir sind eine Maschine“, so Kamyschin. „Wir bleiben am Laufen.“
Der Eisenbahnchef steht, während er spricht, in Kiews majestätischem Bahnhof – während Luftschutzsirenen heulen, wie das in der Stadt so häufig vorkommt. Kamyschin nimmt keine Notiz davon. Er ist gerade aus Cherson zurückgekommen, um sich in ein paar Stunden erneut auf den Weg dorthin zu machen. Aber er zeigt keine Spur
von Müdigkeit, ein fit aussehender Mann in schwarzem T-Shirt und Arbeitsanzug, alles fein gebügelt.
„Mir geht es um Effizienz“, sagt der 38-jährige Vorstandschef, der im Privatsektor tätig war, bevor er 2021 die Zügel bei der staatseigenen Eisenbahngesellschaft in die Hand nahm. Sie ist der größte Arbeitgeber im Land, verfügt über 231.000 Beschäftigte und 27.000 Kilometer an Gleisen. Eine seiner Regeln, so sagt er, lautet: „Krieg ist keine Entschuldigung.“
Eine andere ist es, Eisenbahnarbeiter keinen Gefahren auszusetzen, die er nicht selbst auf sich nehmen würde. Seine Reise nach Cherson, als die ersten Truppen in die Stadt
rollten, war riskant, führte streckenweise Feldwege entlang, die noch nicht von russischen Minen gesäubert waren, wie er sagt. Er postete Videos und Fotos von der Odyssee auf Twitter, sie zeigen zerstörte und entgleiste Schienenfahrzeuge, zerrissene Gleise und ein improvisiertes Frühstück im Freien, mit Spiegeleiern, gebrutzelt auf einem Campingkocher. „Wenn meine Leute mich und mein Team in Cherson sehen, wissen sie, dass es okay für sie ist, selber dorthin zu gehen“, sagt er. „Es wäre absonderlich für mich, sie dahin zu schicken, ohne selbst bereit zu sein, mit ihnen zu gehen.“
In Cherson sah er, dass Einwohner bereits die ukrainische Flagge auf dem Dach des Bahnhofes aufgezogen hatten. Er fotografierte Eisenbahnwaggons, die russische Soldaten vor ihrem Rückzug verwüstet hatten. Vor allem aber sah er dringende Bedürfnisse: Es gab keinen Strom und kein Wasser in der Stadt, und die Vorräte waren knapp. So hatte es höchste Priorität, Gleise zu säubern und zu reparieren, den Weg für die Beförderung von Hilfsgütern und Menschen zu sichern. In anderen von der Besatzung befreiten Orten hat das Eisenbahnnetzwerk Busse bereitgestellt, um Passagiere auf der letzten Strecke zum Zielort zu transportieren, wenn die Gleise zu stark beschädigt waren, um sie rasch instandsetzen zu können.
Das Netzwerk wird so häufig ins Visier genommen, die Infrastruktur täglich und Tausende Male beschädigt, sodass die Eisenbahngesellschaft es Kamyschin zufolge weitgehend aufgegeben hat, öffentlich über die Angriffe zu reden. „Wir wollen nicht der langweiligste Typ auf der Party sein, dauernd berichten, dass wir beschossen worden sind“, sagt er. „Wir gehen schlicht hin und reparieren es.“
Der nahende Beginn des Winters ist eine weitere Herausforderung für die ukrainische Eisenbahn, die sowohl Diesel- als auch Elektrolokomotiven betreibt. Russland hat wiederholt Kraftwerke und andere Energieinfrastruktur der Ukraine angegriffen, und Kälte wie Dunkelheit bringen zusätzliche Belastungen für das schwer beschädigte Stromnetz. Aber man bereitet sich auch darauf vor, wie Kamyschin sagt. Er hat kürzlich Bilder einer Dampf ausstoßenden Lokomotive gepostet, einer möglichen Alternative, wenn alles andere scheitern würde. „Wir haben immer einen Plan B“, erklärt Kamyschin. „Bahnhöfe sind stets mit Strom versorgt, stets beleuchtet, stets warm, und so wird es sogar im Winter sein. Das ist mein Job. Das ist unser Ziel. Das ist es, wofür wir kämpfen.“