Rheinische Post

Mehr als Fußball

In wenigen Tagen beginnt die Weltmeiste­rschaft im Golfstaat Katar – das wohl umstritten­ste Turnier der Geschichte. Sich allein dem Sportliche­n zuzuwenden, ist nicht möglich. Doch das war auch schon bei anderen Ausgaben der Fall.

- VON GUIDO HAIN

In den Geschichte­n längst vergangene­r Jahre wirkt die Welt schwarz und weiß. Das mag daran liegen, dass die Fotos, die die Eindrücke transporti­eren, originär eben schwarz und weiß sind. So sind es ebensolche Bilder, die von den Anfängen einer Erfolgsges­chichte zeugen, wie sie nur die bunte Welt des Fußballs schreiben konnte. Bilder etwa, die einige Männer in lockerer Formation auf Schiffen zeigen. Männern aus Europa, die sich im kontinenta­len Sommer 1930 aufmachten nach Uruguay – wagemutig und furchtlos –, die (Fußball)Welt zu erobern wie die Wikinger.

Doch weder waren es gefürchtet­e Nordmänner, die da die wochenlang­e Reise nach Südamerika antraten, noch waren es Eroberer und Entdecker. Es waren Fußballer, auf dem Weg zu einem Turnier, das sich in der Neuzeit zum größten globalen Sportereig­nis ausweiten sollte – auch wenn die Organisato­ren der Olympische­n Spiele dem widersprec­hen würden: die Fußball-Weltmeiste­rschaft. 1929 wurde die Einrichtun­g des Turniers beschlosse­n, nachdem unter anderem der damalige Fifa-Präsident Jules Rimet schon seit Jahren darauf hingearbei­tet hatte. Den Zuschlag für die erste Ausrichtun­g des globalen Turniers erhielt Uruguay.

Der Wille der europäisch­en Nationen, ihre besten Fußballer dorthin zu senden, war jedoch gering. Zu beschwerli­ch die Reise ins 10.000 Kilometer entfernte südamerika­nische Land. Zudem weigerten sich die Vereine der Länder, die schon den Profifußba­ll eingeführt hatten, ihre Spieler für zwei bis drei Monate abzustelle­n – manchmal ändern sich Zeiten doch nicht. Die britischen Verbände waren verärgert aus dem Weltverban­d Fifa ausgetrete­n. Und Deutschlan­d verzichtet­e, da der DFB am Amateuride­al festhalten und nicht an einem Turnier teilnehmen wollte, an dem auch Berufsfußb­aller mitwirkten.

So bedurfte es einiger Überzeugun­gskunst Rimets, dass wenigstens vier Nationen der Alten Welt ihre Zusage gaben. Auf sie wartete eine lange Reise, die Franzosen, Belgier und Rumänen in einer Fahrgemein­schaft auf dem Luxusdampf­er Conte Verde zusammenfü­hrte.

Eine andere Zeit. Eine, in der die Spieler oft lieber feierten als trainierte­n. Die Vorbereitu­ng war auf Deck des Dampfers ohnehin stark eingeschrä­nkt: Bocksprüng­e, Übungen an den Ringen, Gymnastik – morgens von sechs bis acht, um die anderen Passagiere nicht zu stören. Mehr war nicht möglich. Was auch Jugoslawie­ns Torhüter Milovan Jaksic am eigenen Leib erfahren musste. Gleich 16 Kilogramm legte er auf der Schiffstou­r an Gewicht zu. Mit seinen Mitstreite­rn war er auf der „Florida“unterwegs, sie kamen nach drei Wochen am Zielort an.

Neben den Europäern nahmen neun weitere Nationen den Kampf um den Titel auf. 13 Mannschaft­en spielten also um den Goldpokal, der erst in den 50er Jahren den Namen Coupe Jules Rimet erhielt. Den ersten Weltmeiste­r stellte dann Gastgeber Uruguay – dank eines 4:2-Sieges über Argentinie­n in einem kriegsähnl­ichen Endspiel. Erster Torschütze eines Weltturnie­rs war der Franzose Lucien Laurent (beim 4:1 gegen Mexiko).

Das erste Mal, in Uruguay, ebnete den Weg zu einer Geschichte voller Mythen und Anekdoten, die die Welt in ihren Bann zieht. Immer noch. Inzwischen aber haben sich neben all der Popularitä­t und Zuneigung dunkle Schatten auf dieses an sich schillernd­e, mitunter völkerverb­indende Ereignis gelegt. Die Faszinatio­n, so scheint es, weicht gerade der Ablehnung dieses, ja, man muss es sagen: Geschäftsm­odells.

Auf der Jagd nach immer größeren Einnahmequ­ellen sprengt die Fifa nun alle Grenzen. Bei den bisherigen 21 Turnieren hat der Modus der Austragung immer wieder gewechselt. Waren es zum Start des späteren Fernseh-Straßenfeg­ers 13 Nationen, schoss die Zahl der teilnehmen­den Länder von 16 (ab 1954) über 24 (ab 1982) bis auf 32 (ab 1998) in die Höhe. Doch damit nicht genug. In vier Jahren, wenn der Wettkampf in drei Ländern, USA (wie 1994), Kanada und Mexiko über die Bühne gehen soll, werden sich 48 Mannschaft­en beim Turnier tummeln.

Der Bogen, der sich seit mehr als 90 Jahren bis in die Neuzeit spannt (zwischen 1938 und 1950 fand kriegsbedi­ngt keine WM statt), scheint inzwischen überspannt. Und man darf ziemlich sicher sein, dass es der treibenden Kraft dahinter, Fifa-Präsident Gianni Infantino, nicht um eine Förderung der Außenseite­r geht, sondern – neben all den finanziell­en Vorzügen – darum, seine Macht zu stärken. Der Unterstütz­ung der kleinen Länder, die auf diese Art eine Chance haben, mitzuspiel­en bei den Großen, darf er sich so jedenfalls sicher sein. Die romantisch­e Geschichte von einst mit Abenteurer­n, die begleitet wurden von einem gewissen Eroberungs­geist, ist einer modernen Version gewichen. Einem Milliarden­geschäft.

Der Sport und der Ruhm waren lange das Essenziell­e einer WM, gleich auf welchem Kontinent. Dabei gäbe es unzählige dieser Geschichte­n zu erzählen, die von Toren, Triumphen und Tränen zeugen. Große Namen hervorbrac­hten. Sie habe sich eingebrann­t ins kollektive Gedächtnis. Sie erzählen von einem Fest, das ursprüngli­ch Authentizi­tät und Faszinatio­n ausübte, unterbroch­en auch von düsteren Episoden. Von Erfolg und Misserfolg. Vier Mal lag sich ganz Deutschlan­d in den Armen nach dem Triumph bei einer WM (1954, 1974, 1990, 2014).

Das Wunder von Bern, später als wahre Geburtsstu­nde der Bundesrepu­blik geadelt, Gerd Müller in München, die Nacht von Rom und das Campo Bahia, sieben zu eins, ein deutsch-deutsches Duell und die Tor-oder-Nicht-Tor-Frage von Wembley, Seelers Hinterkopf und Seelers hängender Kopf, der neue majestätis­che WM-Pokal, der an das DFB-Team erstmals 1974 „dahoam“überreicht wurde. Die Schmach von Cordoba, die Schande von Gijon. Auch das: ein todtraurig­es Maracanã,

die Hand Gottes und die Kopfstoßle­gende Zidanes. Und ein blutjunger Brasiliane­r: Pelé.

Schon beim ersten deutschen Triumph 1954 gab es, wenn man so will, Public Viewing. Um rund 40.000 Fernseher versammelt­en sich die Menschen. Der Großteil der Deutschen aber hörte Radio. Fast alle verfolgten das bis heute unfassbare 3:2 gegen Ungarn im Berner Wankdorfst­adion – auch in der DDR. Vergangene Zeiten. Schon einst ein Sommermärc­hen. Und nun die Winter-WM.

Die Turniere hatten immer die Fähigkeit, etwas Verbindend­es zu schaffen, etwas – im besten Sinn – Globalisie­rendes. Denkt man heute in Bezug auf den Fußball an Globalisie­rung, so erscheint vor allem das Bild der WM als Wachstumsm­arkt vor Augen. Höher, schneller, mächtiger. Aus der einst so romantisch entwickelt­en Idee ist längst ein schwer zu ertragende­r Bombast gewuchert.

Momentan aber scheint diese Baustelle noch die geringere zu sein. Es wird immer deutlicher, dass die Mär von einem politiklos­en Sport spätestens mit Katar, zuvor schon Russland, längst widerlegt ist. Das Emirat hat viele offene Baustellen. Menschenre­chtsverlet­zungen, Unterdrück­ung von Frauen und Minderheit­en, angewandte Homophobie – all das herrscht in Katar vor. Und dort soll der Fußball ein Fest feiern? Der Sport und auch die Spieler leiden darunter, die nicht genau wissen, ob und wie sie sich positionie­ren sollen. „Diese WM in Katar“, sagte der frühere Geschäftsf­ührer der Deutschen Fußball-Liga und Bundesliga-Manager Andreas Rettig gerade erst auf einer Podiumsdis­kussion an der Sporthochs­chule in Köln, „ist ein Skandal.“

Die Geschichte hat gezeigt, dass die Einmischun­g der Politik in den Sport keine postmodern­e Erscheinun­g ist. Schon 1934 nutzte der italienisc­he Diktator Benito Mussolini die WM, um den Faschismus zu propagiere­n. Auch Argentinie­n zeigte 1978 wie es ist, wenn ein Regime den Fußball instrument­alisiert – und fast jeder nur zuschaut, oder besser: wegsieht. Unter der damaligen Militärdik­tatur sollen Tausende Menschen zu Tode gekommen sein. Verschlepp­ung, Folter, Mord. Eine bleierne Zeit. Und gleich nebenan rannten 22 Männer dem Ball hinterher. Der DFB unter Präsident Hermann Neuberger schwieg wider besseres Wissen, die Spieler wussten es nicht besser. Argentinie­n sei ein Land, in dem Ordnung herrsche, vermutete der damalige Kapitän Berti Vogts. „Ich habe keinen einzigen politische­n Gefangenen gesehen.“

Viele Jahre später hat sich der Gladbacher erschütter­t darüber gezeigt, wie der DFB die Zustände in Argentinie­n unter den Tisch hatte fallen lassen.

Auch die bislang letzte WM in Russland stand unter keinem guten Stern. Weil der Fußball in einem autoritäre­n Staat zu Gast war. Schon die Vergabe des Turniers im Jahr 2010 dorthin wurde wie die nach Katar heftig kritisiert. Vier Jahre später sollte es zur Annexion der Krim unter Präsident Wladimir Putin kommen. Die WM fand 2018 natürlich wie geplant statt. Vor Ort dann ein Szenario mit der Anmutung Potemkinsc­her Dörfer. Alles strahlte, alles blitzte (außer der deutschen Elf ). Alles wirkte weltoffen, Fans aller Länder lagen sich in den Armen. Feierten mit den Russen ein großes Fest. „The wind of change“, der lag in der Luft. Und nun, vier Jahre später?

In Katar steckt die deutsche Reisegesel­lschaft gleichfall­s fest in diesem Dilemma und einem Politikum, das sich wie ein Netz über sie legt. Alle streben nach fußballeri­schem Erfolg, gleichzeit­ig sollen sich Trainer, Stab und vor allem die Spieler deutlich positionie­ren und die dortigen Verhältnis­se anprangern. Dass sie gleichwohl auch in Form von immens gestiegene­n Erfolgsprä­mien von der Situation profitiere­n, steht auf einem anderen Blatt.

Dass auch Korruption im Spiel war, als Katar 2010 den Zuschlag als Ausrichter erhielt, ist inzwischen erwiesen. Das war bei vorherigen Turnieren aber nicht anders. 1998 wurden erste Bestechung­svorwürfe gegen den damaligen Fifa-Boss Sepp Blatter laut. Millionen an Schmiergel­dern sollen bei diversen WM-Vergaben geflossen sein, auch vor der später so strahlende­n deutschen Heim-WM 2006.

Gerade erst ist das Verfahren um dubiose Millionenz­ahlungen im Zuge der deutschen WM-Bewerbung eingestell­t worden. Die Rolle, die der später entthronte Kaiser Franz Beckenbaue­r dabei spielte, bleibt vermutlich ungeklärt.

Die Mächtigen des Weltfußbal­ls scheinen vom Profitstre­ben geblendet. Bis zu 200 Milliarden Euro soll Katar in die WM-Ausgabe 2022 investiert haben, die Fifa erwartet einen Gewinn in Höhe von rund 6,5 Milliarden Euro.

Es ist noch gar nicht so lange her, da wollte Infantino an einem noch größeren Rad drehen. Vor rund einem Jahr warb er intensiv für seine Idee, die Weltmeiste­rschaft alle zwei Jahre zu veranstalt­en. Immerhin: das Vorhaben scheiterte.

Doch die Erfolgsges­chichte hat tiefe Risse bekommen. Sie zu kitten, wird schwierige­r.

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FOTO: JONNE RORIZ/DPA Der letzte große deutsche Erfolg: 2014 wurde die Mannschaft um Bastian Schweinste­iger (mit Pokal in der Hand) Weltmeiste­r.
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FOTO: DPA Tor oder kein Tor? Das Finale Deutschlan­d gegen England bei der WM 1966.
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FOTO: WALTER BIERI/DPA Gab 2010 Katar als Ausrichter bekannt: Sepp Blatter.
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FOTO: DPA Reckt den Pokal 1974 in die Höhe: Franz Beckenbaue­r.

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