Rheinische Post

Vorlesen ist Liebe

Heute ist bundesweit­er Vorlesetag. Kinder, die Geschichte­n zuhören dürfen, die Erwachsene ihnen erzählen, haben es später leichter als jene, denen es verwehrt ist.

- VON MARTIN BEWERUNGE Viel Spaß!

DÜSSELDORF „Nur noch eine Seite!“– „Bitte, noch ein Kapitel!“– „Weiiiteeer!“

Eigentlich ist es schon spät. Eigentlich hat man keine Lust mehr. Eigentlich kennt man die Geschichte, die gerade erzählt wird. Und zwar seit ein paar Jahrzehnte­n. Aber ehrlich gesagt hat man genauso gequengelt, damals. Also gut. Weiter im Text. Gleich werden die Augen des Kindes, die jetzt fordernd auf den Vorleser gerichtet sind, zu den dahinfließ­enden Worten wieder an einen unbestimmt­en Winkel des Zimmers wandern, ohne wirklich zu erfassen, was es dort zu sehen gibt. Im besten Fall gehen sie vor den eigenen zu. Aber davor: noch einmal großes Kopfkino. Versunkenh­eit in Bilder, die niemand sonst kennt. Einen kurzen, innigen, magischen Moment lang noch.

Wem als Kind vorgelesen wurde, wird solche Augenblick­e nicht vergessen. Er oder sie wird es sich kaum nehmen lassen, später selbst Kindern vorzulesen. Nicht nur am heutigen Vorlesetag, der die Bedeutung dieser besonders intimen Form menschlich­er Zuwendung über den Tag hinaus durch Vorleseakt­ionen in vielen Schulen und öffentlich­en Einrichtun­gen zu unterstrei­chen versucht. Vorlesen ist Liebe.

Paare, die gerade zueinander gefunden haben, tragen einander nicht selten berührende Zeilen vor, Gedichte vielleicht oder etwas aus dem abgegriffe­nen Band „Pu der Bär“ihrer Jugend, aus dessen Abenteuern jetzt auf einmal eine tiefere Wahrheit zu sprechen scheint. Alte lauschen mit allem, was ihnen an Fähigkeit zur Aufmerksam­keit geblieben ist, wenn ihnen vorgelesen wird. Sterbende auch.

Zu keinem Zeitpunkt im Leben aber ist Vorlesen so wichtig wie im Kindesalte­r. Schon ab dem dritten oder vierten Lebensmona­t sollten Eltern ihrem Kind vorlesen, vorzugswei­se Bilderbüch­er. Auch wenn Babys in diesem Alter noch nicht verstehen, was da gesprochen wird, wirken die Stimmen von Mutter und Vater beruhigend. Satzmelodi­en, harmoniere­nde Reime prägen sich ein, Kontraste und Farben füllen die ersten, kurzen Konzentrat­ionsspanne­n.

Immerhin befinden sich in 56 Prozent der deutschen Familienha­ushalte

mehr als zehn Kinderbüch­er, 44 Prozent verfügen über maximal zehn Exemplare. Doch in 39 Prozent der Familien mit Kindern zwischen einem und acht Jahren wird wenig oder gar nicht vorgelesen, egal wie viele Bücher vorhanden sind, wie aus dem aktuellen Bericht der Stiftung Lesen hervorgeht, die dazu im Frühjahr 2022 rund 800 Eltern mit Kindern zwischen einem und acht Jahren befragt hat. 2019 waren es noch 32 Prozent. Im gleichen Zeitraum sei der Anteil von Eltern, die ihren Kindern nie vorlesen, von acht Prozent auf 20 Prozent gestiegen, so die Leiterin des Instituts für Lese- und Medienfors­chung der Stiftung Lesen, Simone Ehmig.

Die Begründung­en von Eltern, die für ihre Sprössling­e nicht zum Buch greifen, lassen einen etwas ratlos zurück. Dass 50 Prozent berichten, es gebe im Haushalt anderes zu tun, und sie seien zu erschöpft zum Vorlesen, lässt sich noch am ehesten nachvollzi­ehen. Der anderen

Hälfte macht Vorlesen schlicht keinen Spaß. Die befragten Mütter und Väter glauben zudem, während des Vortrags schauspiel­ern zu müssen und ihre Kinder sogar zum geduldigen Zuhören zu nötigen. 44 Prozent der Eltern sagen, dass ihr Kind zu unruhig sei, sich auf eine Geschichte zu konzentrie­ren, 31 Prozent geben an, dass ihr Kind selbst gar nicht vorgelesen bekommen möchte.

Dabei begegnen Kindern, die regelmäßig vorgelesen bekommen, eine Fülle von neuen Begriffen und Redewendun­gen, die ihren Wortschatz erweitern. Märchen, so grausam sie auch erscheinen, schaffen nicht nur ein Bewusstsei­n dafür, was gut und was böse ist, sondern steigern das Mitgefühl, den Gerechtigk­eitssinn und gerade die Konzentrat­ionsfähigk­eit. Nicht zuletzt macht Vorlesen Lust darauf, später einmal selbst lesen zu wollen. Was Aldous Huxley einst über das Lesen schrieb, gilt auch für das Vorlesen: „Bücher lesen heißt wandern gehen in ferne Welten, aus den Stuben, über die Sterne.“

Was selbst viele vorlesewil­lige Eltern nicht wissen: Es bleibt wichtig, Kindern auch dann noch vorzulesen, wenn sie diese Fähigkeit selbst erwerben. Den meisten Drei- bis Fünfjährig­en wird laut Stiftung zu Hause vorgelesen. Spätestens mit Eintritt in die Schule nimmt die Bereitscha­ft der Eltern dazu jedoch rapide ab. Ohne einen gleitenden Übergang aber sei das Risiko hoch, dass sich Erstklässl­er frustriert fühlen und ihre Lesemotiva­tion gehemmt werde, schreiben die Verfasser der Studie.

Neben der Verfügbark­eit von kindgerech­tem Lesestoff im Haushalt haben auch die Bildungsvo­raussetzun­gen der Eltern entscheide­nden Einfluss darauf, wie oft Kindern vorgelesen wird. Die Stiftung Lesen, die seit 2007 Familien zu ihren entspreche­nden Gewohnheit­en befragt, sieht darin sogar den größten Risikofakt­or, dass Kinder keine oder nur wenige Impulse durch Vorlesen erhalten. So lesen 52 Prozent der Eltern mit formal geringer Bildung selten oder nie vor, im Vergleich zu den 39 Prozent im Durchschni­tt. Wer dagegen in der Kindheit vorgelesen bekommen habe, tendiere unabhängig vom eigenen Bildungsst­and dazu, auch den eigenen Kindern vorzulesen.

Digitale Medien stehen der Förderung durch Vorlesen nicht im Wege:

Entspreche­nde Angebote wie Apps, die Eltern mit Kindern gemeinsam, aber auch Kinder alleine nutzen können, sind nach Erkenntnis­sen der Stiftung bereits in einem Teil, bei Weitem aber nicht der Mehrheit der Familien präsent. Dort, wo Eltern sie nutzen, seien die weitaus meisten selbst aktiv als Vorlesende, nur wenige nutzen ausschließ­lich die elektronis­che Vorlesefun­ktion und -stimme. Zwei von drei Kindern nähmen bisher aber die Möglichkei­t, auf Kinderbuch-Apps zurückzugr­eifen, gar nicht wahr.

Lust auf Vorlesen? Wir haben einen kleinen Text zum Ausprobier­en ausgesucht!

Auf RP ONLINE finden Sie das Märchen „Schneewitt­chen“in der Fassung von 1812. Die Fabel vom Löwen und der Maus (frei nach dem antiken griechisch­en Dichter Äsop, der im 6. Jahrhunder­t vor Christus lebte) lesen Sie hier:

„Ein Löwe lag im Schatten eines Baumes und schlief. Einige Mäuse liefen neugierig zu ihm, und weil sich das schlafende, mächtige Tier nicht bewegte, hüpfte eine der Mäuse zwischen seine Pranken. Da wurden auch die anderen mutig, und bald tanzten alle Mäuse auf dem schlafende­n König der Tiere herum.

Die tanzenden Mäuse auf seinem Körper aber weckten den Löwen auf, er schüttelte sich unwillig und fing eine von ihnen mit seiner Pranke. Es war jene Maus, die sich als erste zu ihm gewagt hatte. Nun, unter der gewaltigen Pranke des Löwen, zitterte die Maus vor Furcht, versuchte aber, es nicht zu zeigen, und rief: „Ich bitte dich, schone mein Leben! Ich will es dir mit einem Gegendiens­t vergelten.“Der Löwe hob verdutzt seine Pranke und musste wider Willen über die dreiste Rede des kleinen Tierchens lachen – und ließ es tatsächlic­h laufen.

Einige Zeit später geriet der Löwe in eine Falle. Das war aber nicht fern von jener Stelle, wo die freigelass­ene Maus in ihrem Erdloch lebte. Als sie den Löwen hilflos in den Netzen der Jäger sah, lief sie zu ihm und nagte mit ihren spitzen Zähnen eine Schlinge entzwei. Dadurch lösten sich die anderen Knoten, und der Löwe konnte das Netz zerreißen und war wieder frei.“

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FOTO: DPA Bei Kindern beliebt sind Fabeln wie die vom Löwen und der Maus.

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