Zeit zum Durchatmen
Erfolge der Ukraine, fallende Großhandelspreise für Gas und Strom, zunehmende Isolierung Russlands, ein Rückschlag für die Trumpisten in den USA – alles positive Nachrichten. Der Westen kann zuversichtlicher sein.
Den versammelten Staatsund Regierungschefs des G20-Gipfels auf Bali stockte kurz der Atem, als tödliche Einschläge von Raketen sowjetischer Bauart in Polen gemeldet wurden. Ein Angriff der Russen auf Nato-Gebiet? Das wäre die Eskalation des Krieges schlechthin gewesen. Es kam anders. Der vermeintliche Angriff stellte sich als tragischer Unglücksfall heraus, weil eine ukrainische Flugabwehrrakete ihr Ziel verfehlt hatte und wohl aus Versehen Polen traf.
Die Episode, die zwei Menschen das Leben kostete, zeigt nur zu deutlich, wie unkontrollierbar der
Krieg in der Ukraine plötzlich werden kann. Gleichzeitig beschießen die russischen Streitkräfte Kiew und andere Großstädte des Landes mit Raketen, um die Wasser- und Stromversorgung zu treffen. Und an der Frontlinie im Osten sterben fast täglich Soldaten und Zivilisten als Folge der russischen Aggression.
Aber es gibt auch Lichtblicke – und nicht einmal wenige. Die ukrainische Armee hat die Großstadt Cherson zurückgewonnen und das nordwestliche Ufer des großen Flusses Dnipro befreit. 179 Orte haben die Soldaten des Landes nach eigenen Angaben in dieser Operation besetzt. Inzwischen hat die Ukraine nach Schätzungen des Institute for the Study of War in Washington ein Gebiet von 75.000 Quadratkilometern eingenommen, das die Russen bisher kontrolliert hatten. Das entspricht ungefähr der Fläche Bayerns.
Der Krieg in der Ukraine ist noch längst nicht vorbei. Aber eines lässt sich jetzt schon sagen: Der russische Angriff und der Versuch des Kremls, die Ukraine als eigenständige Nation auszulöschen, sind vorerst gescheitert. Wladimir Putin, der von einer russischen Vorherrschaft von Lissabon bis Wladiwostok träumte, hat durch seine Aggression das Land erst richtig zusammengeschweißt. Zugleich hat der Kremlchef vor aller Welt demonstriert, wie grausam, aber auch wie teilweise dilettantisch, schwach und unmotiviert die einst gefürchtete russische Armee agiert. Das hatten die meisten internationalen Militärspezialisten anders eingeschätzt. Die Rückeroberung Chersons ist eine Wende im Krieg. Sie wird nach Ansicht vieler Beobachter als Beginn der Niederlage Putins in die Geschichtsbücher eingehen. Auch der Westen muss den Scheinriesen Russland nicht mehr fürchten.
Wer aber nicht mehr gefürchtet wird, der verliert auch schnell auf dem internationalen Parkett seine offenen und heimlichen Unterstützer. Die westlichen Staats- und Regierungschefs haben es auf dem G20-Gipfel überraschend geschafft, Russland zu isolieren. Die Schlusserklärung, in der die 19 wichtigsten Länder und Staatenbündnisse der Welt den Krieg „aufs Schärfste“verurteilen, ist ein Sieg der Kräfte des Friedens. Nicht nur die Vereinten Nationen haben sich mehrheitlich auf die Seite der überfallenen Ukraine gestellt, auch Länder wie China und Indien wenden sich von Moskau ab. Ein schwerer Rückschlag für Putin.
Der diplomatische Erfolg auf Bali und die militärischen Siege in der Ukraine geben etwas Zeit zum Durchatmen. Denn auch die schweren wirtschaftlichen Probleme verlieren ihre unmittelbare Bedrohlichkeit. Die gestörten Lieferketten normalisieren sich wieder. Und auch die Starre nach dem Energiepreisschock, der gerade für demokratische Länder eine Bewährungsprobe darstellt, löst sich offenbar schneller wieder auf als gedacht. „Eine nationale Gasmangellage im Winter ist nicht mehr zu befürchten“, urteilt der Energieexperte Hans-Wilhelm Schiffer, der an der RWTH Aachen lehrt. „Die Industrie hat deutlich Gas eingespart und durch andere Energien ersetzt.“Sogar die Großhandelspreise fallen stark. Der als Benchmark geltende Gas-Future, ein Preis für künftige Lieferungen des wichtigen Energierohstoffs, ist von seiner Rekordhöhe im August um zwei Drittel gesunken. Das ist noch immer dreimal so viel wie vor dem Krieg, entwertet aber nicht völlig die Produktionsanlagen der europäischen Industrie.
Die Lage entspannt sich weiter. Die Gasspeicher sind zu 99,98 Prozent gefüllt. Das schwimmende Terminal für Flüssiggas vor Wilhelmshaven wurde in nur 200 Tagen fertig. Und vor der Küste warten 34 Tanker, dass sie ihre GasFracht entladen können. Europa ist solidarisch. Spanien hat sich bereit erklärt, einen Teil seines Gases als Reserve bereitzuhalten. Zugleich sparen die Länder in Europa; der Verbrauch liegt auch dank der wärmeren Tage rund 30 Prozent unter dem saisonalen Durchschnitt. Es bestehen gute Chancen, die geschätzte Gaslücke in Deutschland in Höhe von 20 Prozent zu schließen. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in den offenen Systemen des Westens haben schnell und adäquat reagiert.
Nicht einmal politisch geht die Strategie Putins auf. Die unter den Premierministern Boris Johnson und Liz Truss so sprunghafte britische Regierung kehrt zu einer Politik des Augenmaßes zurück. Die postfaschistische Ministerpräsidentin Italiens, Giorgia Meloni, vertritt eine feste Haltung gegen Putin. Und selbst dessen heimlicher Bewunderer Donald Trump hat nur wenige seiner radikalen Gefolgsleute bei den Kongresswahlen durchgebracht.
Der Krieg gegen Russland ist noch nicht gewonnen. Aber es bestehen Chancen, dass Putin doch Verhandlungen als Ausweg ansieht, um seine Haut zu retten. Eine gute Ausgangsposition für die Ukraine und ihre Helfer im Westen. Man könnte über den Frieden aus einer Position der Stärke heraus sprechen. Das Fundament dafür ist gelegt.
„Eine nationale Gasmangellage im Winter ist nicht mehr zu befürchten“Hans-Wilhelm Schiffer Energieexperte