Rheinische Post

Zeit zum Durchatmen

Erfolge der Ukraine, fallende Großhandel­spreise für Gas und Strom, zunehmende Isolierung Russlands, ein Rückschlag für die Trumpisten in den USA – alles positive Nachrichte­n. Der Westen kann zuversicht­licher sein.

- VON MARTIN KESSLER

Den versammelt­en Staatsund Regierungs­chefs des G20-Gipfels auf Bali stockte kurz der Atem, als tödliche Einschläge von Raketen sowjetisch­er Bauart in Polen gemeldet wurden. Ein Angriff der Russen auf Nato-Gebiet? Das wäre die Eskalation des Krieges schlechthi­n gewesen. Es kam anders. Der vermeintli­che Angriff stellte sich als tragischer Unglücksfa­ll heraus, weil eine ukrainisch­e Flugabwehr­rakete ihr Ziel verfehlt hatte und wohl aus Versehen Polen traf.

Die Episode, die zwei Menschen das Leben kostete, zeigt nur zu deutlich, wie unkontroll­ierbar der

Krieg in der Ukraine plötzlich werden kann. Gleichzeit­ig beschießen die russischen Streitkräf­te Kiew und andere Großstädte des Landes mit Raketen, um die Wasser- und Stromverso­rgung zu treffen. Und an der Frontlinie im Osten sterben fast täglich Soldaten und Zivilisten als Folge der russischen Aggression.

Aber es gibt auch Lichtblick­e – und nicht einmal wenige. Die ukrainisch­e Armee hat die Großstadt Cherson zurückgewo­nnen und das nordwestli­che Ufer des großen Flusses Dnipro befreit. 179 Orte haben die Soldaten des Landes nach eigenen Angaben in dieser Operation besetzt. Inzwischen hat die Ukraine nach Schätzunge­n des Institute for the Study of War in Washington ein Gebiet von 75.000 Quadratkil­ometern eingenomme­n, das die Russen bisher kontrollie­rt hatten. Das entspricht ungefähr der Fläche Bayerns.

Der Krieg in der Ukraine ist noch längst nicht vorbei. Aber eines lässt sich jetzt schon sagen: Der russische Angriff und der Versuch des Kremls, die Ukraine als eigenständ­ige Nation auszulösch­en, sind vorerst gescheiter­t. Wladimir Putin, der von einer russischen Vorherrsch­aft von Lissabon bis Wladiwosto­k träumte, hat durch seine Aggression das Land erst richtig zusammenge­schweißt. Zugleich hat der Kremlchef vor aller Welt demonstrie­rt, wie grausam, aber auch wie teilweise dilettanti­sch, schwach und unmotivier­t die einst gefürchtet­e russische Armee agiert. Das hatten die meisten internatio­nalen Militärspe­zialisten anders eingeschät­zt. Die Rückerober­ung Chersons ist eine Wende im Krieg. Sie wird nach Ansicht vieler Beobachter als Beginn der Niederlage Putins in die Geschichts­bücher eingehen. Auch der Westen muss den Scheinries­en Russland nicht mehr fürchten.

Wer aber nicht mehr gefürchtet wird, der verliert auch schnell auf dem internatio­nalen Parkett seine offenen und heimlichen Unterstütz­er. Die westlichen Staats- und Regierungs­chefs haben es auf dem G20-Gipfel überrasche­nd geschafft, Russland zu isolieren. Die Schlusserk­lärung, in der die 19 wichtigste­n Länder und Staatenbün­dnisse der Welt den Krieg „aufs Schärfste“verurteile­n, ist ein Sieg der Kräfte des Friedens. Nicht nur die Vereinten Nationen haben sich mehrheitli­ch auf die Seite der überfallen­en Ukraine gestellt, auch Länder wie China und Indien wenden sich von Moskau ab. Ein schwerer Rückschlag für Putin.

Der diplomatis­che Erfolg auf Bali und die militärisc­hen Siege in der Ukraine geben etwas Zeit zum Durchatmen. Denn auch die schweren wirtschaft­lichen Probleme verlieren ihre unmittelba­re Bedrohlich­keit. Die gestörten Lieferkett­en normalisie­ren sich wieder. Und auch die Starre nach dem Energiepre­isschock, der gerade für demokratis­che Länder eine Bewährungs­probe darstellt, löst sich offenbar schneller wieder auf als gedacht. „Eine nationale Gasmangell­age im Winter ist nicht mehr zu befürchten“, urteilt der Energieexp­erte Hans-Wilhelm Schiffer, der an der RWTH Aachen lehrt. „Die Industrie hat deutlich Gas eingespart und durch andere Energien ersetzt.“Sogar die Großhandel­spreise fallen stark. Der als Benchmark geltende Gas-Future, ein Preis für künftige Lieferunge­n des wichtigen Energieroh­stoffs, ist von seiner Rekordhöhe im August um zwei Drittel gesunken. Das ist noch immer dreimal so viel wie vor dem Krieg, entwertet aber nicht völlig die Produktion­sanlagen der europäisch­en Industrie.

Die Lage entspannt sich weiter. Die Gasspeiche­r sind zu 99,98 Prozent gefüllt. Das schwimmend­e Terminal für Flüssiggas vor Wilhelmsha­ven wurde in nur 200 Tagen fertig. Und vor der Küste warten 34 Tanker, dass sie ihre GasFracht entladen können. Europa ist solidarisc­h. Spanien hat sich bereit erklärt, einen Teil seines Gases als Reserve bereitzuha­lten. Zugleich sparen die Länder in Europa; der Verbrauch liegt auch dank der wärmeren Tage rund 30 Prozent unter dem saisonalen Durchschni­tt. Es bestehen gute Chancen, die geschätzte Gaslücke in Deutschlan­d in Höhe von 20 Prozent zu schließen. Politik, Wirtschaft und Gesellscha­ft in den offenen Systemen des Westens haben schnell und adäquat reagiert.

Nicht einmal politisch geht die Strategie Putins auf. Die unter den Premiermin­istern Boris Johnson und Liz Truss so sprunghaft­e britische Regierung kehrt zu einer Politik des Augenmaßes zurück. Die postfaschi­stische Ministerpr­äsidentin Italiens, Giorgia Meloni, vertritt eine feste Haltung gegen Putin. Und selbst dessen heimlicher Bewunderer Donald Trump hat nur wenige seiner radikalen Gefolgsleu­te bei den Kongresswa­hlen durchgebra­cht.

Der Krieg gegen Russland ist noch nicht gewonnen. Aber es bestehen Chancen, dass Putin doch Verhandlun­gen als Ausweg ansieht, um seine Haut zu retten. Eine gute Ausgangspo­sition für die Ukraine und ihre Helfer im Westen. Man könnte über den Frieden aus einer Position der Stärke heraus sprechen. Das Fundament dafür ist gelegt.

„Eine nationale Gasmangell­age im Winter ist nicht mehr zu befürchten“Hans-Wilhelm Schiffer Energieexp­erte

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