Ist Twitter noch zu retten?
ANALYSE Massenentlassungen, Fake-Accounts und eine drohende Insolvenz: Seit der Übernahme durch Elon Musk geht bei dem Kurznachrichtendienst alles drunter und drüber. Das ist eine Gefahr – für Nutzer und Debattenkultur.
Seit drei Wochen ist der Kurznachrichtendienst Twitter nun in der Hand von Elon Musk – und versinkt mehr und mehr im Chaos. Der bizarre Auftritt mit einem Waschbecken im Twitter-Hauptquartier in San Francisco, versehen mit den Worten „Let that sink in“(„Lasst das auf euch wirken“), sollte nur der Anfang sein. Seitdem sorgen Massenentlassungen, nachgewiesene Fake-Accounts und eine mögliche Insolvenz für Schlagzeilen. Das von Musk angerichtete Chaos hat nicht nur üble Folgen für die Mitarbeiter, sondern auch für die Nutzer der Plattform.
Am 28. Oktober twitterte Musk: „Der Vogel ist befreit“. Zuvor hatte er nach monatelangen Rechtsstreitigkeiten die Plattform mit dem Vogel-Logo für 44 Milliarden Dollar gekauft – und sofort Führungskräfte des Unternehmens entlassen, darunter Konzernchef Parag Agrawal und Finanzvorstand Ned Segal. Damit aber nicht genug: Kurz darauf löste er auch den Verwaltungsrat auf, zu dessen Aufgaben die Auswahl, Beratung und Kontrolle des Spitzenmanagements gehören. An der Spitze des Unternehmens steht jetzt nur noch ein Mann: der selbst ernannte „alleinige Direktor“Elon Musk.
Viele fragen sich, warum Musk den Kurznachrichtendienst, der schon zuvor rote Zahlen schrieb, überhaupt gekauft hat. Der Digitalexperte Klemens Skibicki bezweifelt, dass er rein wirtschaftliche Interessen verfolgt. Vielmehr sei der Kauf im Gesamtkontext zu bewerten: „Wer die weltweit wichtigsten Nachrichtenticker hat, der kann viele Dinge bewegen“, so Skibicki. Er verweist auf die Gruppe von bedeutenden Unternehmen wie Tesla (E-Autos) oder Space X (Weltraum), die sich bereits in Musks Besitz befinden. Zukunfts- und
Wirtschaftsexperte Bernd Thomsen, Gründer der Thomsen Group, einer führenden globalen Managementberatung mit Zukunftsexpertise, sieht als Motiv dagegen eher das Selbstbild des impulsiven Musk. Der Milliardär stehe vor dem Spiegel und denke sich: „Weil ich es kann!“
Kurz nach der Übernahme folgte eine große Entlassungswelle: Rund 3700 Mitarbeiter – etwa die Hälfte der bisherigen Twitter-Belegschaft – mussten gehen. In einer Rundmail hieß es, der Stellenabbau sei „unglücklicherweise notwendig, um den Erfolg des Unternehmens in der Zukunft sicherzustellen“. Mehr als unglücklich verliefen aber auch die Kündigungen selbst: Per E-Mail wurden die Mitarbeiter über ihre Zukunft im Unternehmen informiert, andere erfuhren von ihrer Entlassung, indem ihr Zugriff auf die Systeme des Unternehmens gesperrt wurde.
Das Ausmaß des allgemeinen Chaos zeigte sich, als die Unternehmensleitung Dutzende gekündigte Mitarbeiter um ihre Rückkehr bitten musste. Ihre Kündigung sei versehentlich oder unüberlegt geschehen. Zugleich stellte Musk ihnen das Ultimatum, sich zu Überstunden zu verpflichten oder das Unternehmen zu verlassen.
Diese Maßnahmen sind Teil des Planes für ein neues Twitter mit weniger Kontrollen der Inhalte und mehr Spaß. Ihm gehe es um die Stärkung der Redefreiheit, so Musk, die auf der Plattform zu sehr eingeschränkt worden sei. Diese Aussagen lassen Sorgen über die künftigen Direktiven bei Twitter aufkommen. German Neubaum, Juniorprofessor für Psychologische Prozesse der Bildung in sozialen Medien an der Universität Duisburg-Essen, warnt vor den Folgen dieses Chaos: „Die zentrale Gefahr sehe ich in den Konsequenzen einer fehlenden Regulierung, die extremistische Inhalte, Diskriminierung und Falschinformationen
zulässt.“Erste Maßnahme nach den US-Kongresswahlen: Der frühere Präsident Donald Trump, ein Freund Musks, darf wieder twittern. Das war ihm nicht mehr erlaubt, seit er gute Worte für den Sturm seiner Anhänger auf das Kapitol am 6. Januar 2021 gefunden hatte.
Auch wirtschaftlich sieht es nicht gut aus. Selbst Musk schließt eine Insolvenz nicht mehr aus. Ist das Unternehmen noch zu retten? „Ja“, sagt Thomsen – insofern Twitter sechs kritische Erfolgsfaktoren erfüllt. Dafür müsse der blaue Verifizierungshaken durch Überprüfung der Echtheit der Personen und mit Klarnamen als Werkzeug gegen Hass, Hetze und Lüge genutzt werden. „Die Innovierung muss für den User einfach und bequem sein“, ergänzt Thomsen. Deshalb sieht der Experte auch keine Zukunft für den Dienst Mastodon als Twitter-Nachfolger – der sei nämlich viel zu kompliziert. Weiterhin müsse der Kurznachrichtendienst unabhängig werden: „Durch die Personalunion von Elon Musk bei Twitter und Tesla entstehen Abhängigkeiten. Tesla macht mehr als ein Viertel seines Umsatzes in China und baut mehr als die Hälfte seiner Autos dort“, so Thomsen. Dennoch müsse Twitter die Wirtschaft als Partner für Freiheit und Verantwortung nutzen. Und zuletzt empfiehlt der Zukunftsexperte, die Nutzerschaft erheblich zu verbreitern, denn „allzu oft prägen überwiegend Politiker und Medien die Nutzerschaft“.
Auch Digitalexperte Skibicki gibt dem Unternehmen noch eine Chance: „Twitter ist weltweit als der übergreifende Nachrichtenticker gesetzt.“Er sehe noch keine große Abwanderung. Und auch Thomsen gibt zu bedenken, wie relevant der Kurznachrichtendienst für die Intensivverwender ist. „Es wird auch künftig einen sozialen Nachrichtenkanal und eine wichtige Diskussionsplattform geben“, erklärt der Zukunftsexperte. Das könne Twitter oder ein Nachfolger sein.
Damit verbunden ist auch der generelle Umgang mit sozialen Medien. Problematische Inhalte und Kommentare müssen verstärkt gemeldet und Quellen aktiv hinterfragt werden. Soziale Medien werden in Deutschland immer häufiger als Nachrichtenquelle genutzt. Umso wichtiger wird es, die eigenen Kompetenzen im Umgang mit diesen Plattformen zu stärken – unabhängig von den weiteren Entwicklungen rund um den Kurznachrichtendienst Twitter.
„Wer die weltweit wichtigsten Nachrichtenticker hat, kann vieles bewegen“Klemens Skibicki Digitalexperte