Der Herr der Hardliner
Ali Chamenei, der geistliche Führer des Iran, ist nicht zu Kompromissen bereit. Aber er steht unter Zeitdruck.
TEHERAN/ISTANBUL Ajatollah Ali Chamenei war im Iran schon an der Macht, als viele der Demonstranten, die seit acht Wochen gegen sein Regime protestieren, noch gar nicht geboren waren. Im Jahr 1989 wurde Chamenei zum Nachfolger von Revolutionsführer Ajatollah Ruhollah Chomeini bestimmt, des Gründers der Islamischen Republik.
In seinen inzwischen 33 Jahren an der Staatsspitze hat Chamenei eine Herrschaft der Hardliner zementiert, die nach seinem Tod die Theokratie verteidigen sollen. Doch während sich der heute 83-jährige Chamenei auf die Machtübergabe an einen Nachfolger vorbereitet, zielt die landesweite Protestbewegung auf sein Lebenswerk.
Der im nordostiranischen Maschhad geborene Chamenei studierte als junger Mann bei Chomeini in der heiligen iranischen Stadt Ghom und war dessen Vertrauter in der Revolution von 1979, die den Schah vom Thron stürzte und das islamische System errichtete. Zwei Jahre später wurde Chamenei bei einem Attentat schwer verletzt; er kann deshalb bis heute seinen rechten Arm kaum benutzen. Von Chomeini wurde er vor dessen Tod 1989 zum Nachfolger bestimmt.
Jahrelang lieferte sich Chamenei einen Machtkampf mit seinem Rivalen, dem langjährigen Präsidenten und Parlamentspräsidenten Ajatollah Akbar Haschemi Rafsandschani, der Pragmatismus in der Außenpolitik und eine wirtschaftliche Öffnung des Landes forderte. Chamenei dagegen steht bis heute an der Spitze der konservativen Kräfte, der Revolutionsgarde
und der Hardliner, die dem Westen tief misstrauen. Ihnen ist der Erhalt der Theokratie wichtiger als wirtschaftlicher Erfolg.
Die Feindschaft endete mit Rafsandschanis Tod: 2017 wurde seine Leiche im Swimmingpool einer Luxus-Wohnanlage für hohe Funktionäre in Teheran gefunden. Herzinfarkt, lautete die Erklärung, doch Rafsandschanis Familie glaubt nicht an eine natürliche Todesursache.
Seitdem regiert Chamenei unangefochten. Alex Vatanka, IranExperte beim Nahost-Institut in Washington, der ein Buch über Chamenei und Rafsandschani geschrieben hat, nennt den Revolutionsführer einen „Mikro-Manager“, der sich um alles selbst kümmern will. „Er ist sehr stur, er hört sich nicht oft andere Meinungen an“, sagte Vatanka unserer Redaktion.
Diese Sturheit erlaubt keine Kompromissbereitschaft gegenüber der derzeitigen Protestbewegung. Chamenei ist den Reformern in Teheran im Laufe seiner langen Regierungszeit zwar mehrmals entgegengekommen. Doch das waren taktische Entscheidungen – die Grundlinien der iranischen Politik bestimmte Chamenei stets allein. Dabei hat der Erhalt der Islamischen Republik höchste Priorität, wie Vatanka sagt: Chamenei sei überzeugt, dass das Regime nur zu retten sei, wenn die Hardliner alle Hebel der Macht unter Kontrolle hätten.
Deshalb ebnete Chamenei 2021 seinem Schützling Ajatollah Ebrahim Raisi den Weg ins Präsidentenamt. Mit Raisi betreibt Chamenei in jüngster Zeit eine außenpolitische Ausrichtung des Iran auf Russland, China und den zentralasiatischen
Raum. Der greise Revolutionsführer spricht viel von dem seiner Meinung nach bevorstehenden Ende der westlichen Vorherrschaft.
Über den Gesundheitszustand von Chamenei und mögliche Nachfolger als Revolutionsführer wird viel spekuliert. Chamenei wurde im Jahr 2014 wegen Prostatakrebs operiert; im September verschwand er mehrere Wochen von der Bildfläche, was Spekulationen über eine neue schwere Krankheit anheizte. Schon im Sommer machten Meldungen die Runde, Chameneis 53-jähriger Sohn Mojtaba solle den geistlichen Rang eines Ajatollahs erhalten, der Voraussetzung für das höchste Amt in der Islamischen Republik ist. Auch der 61-jährige Präsident Raisi hat Chancen, Chamenei zu beerben. Bestimmt wird der Revolutionsführer vom konservativen Expertenrat, doch kann Chamenei einen Wunschkandidaten benennen.
Nach mehr als drei Jahrzehnten an der Macht will Chamenei vor allem ein Ziel erreichen: Er will die von Hardlinern dominierte Islamische Republik erhalten und einen grundlegenden politischen Wandel im Iran verhindern. Genau diesen Wandel strebt die Protestbewegung jedoch an, und sie erhält dafür Unterstützung von immer mehr Iranern. Bei Kundgebungen zünden Demonstranten die Bilder von Chamenei in den Straßen an und fordern mit dem Ruf „Tod dem Diktator“seinen Sturz. Die Gewalt nimmt dabei zu; in Katar sang am Montag die iranische Fußball-Nationalmannschaft die Hymne nicht mit. In der letzten Phase seines Lebens steht Chamenei vor der größten Herausforderung seiner Karriere.