Rheinische Post

Katar ist zu wichtig für einen Boykott

Vieles liegt beim WM-Gastgeber im Argen. Zwar unternimmt das Emirat Reformen, wirkt dabei aber nicht sehr glaubwürdi­g. Das Problem ist nur: In Sachen Energie ist das Land derzeit unverzicht­bar. Das hat politische Konsequenz­en.

- VON MARTIN KESSLER UND JULIA STRATMANN

Die Vergabe der Fußball-Weltmeiste­rschaft an Katar war ein Fehler der macht- und geldorient­ierten Weltfußbal­lorganisat­ion Fifa. Mit ihren milliarden­schweren Scheckbüch­ern konnte die katarische Herrscherf­amilie das Großereign­is kaufen – vielleicht war auch aktive Bestechung im Spiel. Das Fehlen von Frauen- und Minderheit­enrechten, der ausbeuteri­sche und gewissenlo­se Umgang mit vielen ausländisc­hen Bauarbeite­rn sowie die dubiose Unterstütz­ung islamistis­cher Radikaler machen das Land ungeeignet für die Ausrichtun­g des wichtigste­n sportliche­n Ereignisse­s in diesem Jahr.

Aber es ist nun mal entschiede­n, die Weltmeiste­rschaft hat begonnen, und mit von der Partie ist die deutsche Mannschaft, die an diesem Mittwoch ihr erstes Spiel bestreitet. Doch die Missverstä­ndnisse, die Kritik, das unwürdige Gezerre um die Kapitänsbi­nden, die für Toleranz werben, nehmen nicht ab. Wie sollen sich also Politiker und andere Vertreter des demokratis­chen Deutschlan­d im Verlauf der WM verhalten? Sollten sie die Weltmeiste­rschaft boykottier­en, ignorieren oder nur unter großen Protesten einen Besuch erwägen? Darf der Bundeskanz­ler anreisen, wenn Deutschlan­d (überrasche­nderweise) doch im Finale steht?

Der Umgang mit dem Wüstenstaa­t Katar ist zum Lackmustes­t der deutschen Außen- und Wirtschaft­spolitik geworden. Dabei schwankt die politische Klasse hierzuland­e zwischen Verurteilu­ng und kritischer Partnersch­aft. Sicher ist: Deutschlan­d braucht derzeit den Wüstenstaa­t als Wirtschaft­spartner. Die Kataris sind der größte Flüssiggas­Exporteur der Welt. Nur über sie kann sich die deutsche Wirtschaft bei der

Gasversorg­ung von Russland unabhängig machen. Eine echte Alternativ­e gibt es kurzfristi­g nicht.

Doch das heißt nicht, all diese Vorgänge kritiklos hinzunehme­n. Bundesinne­nministeri­n Nancy Faeser (SPD) fährt nun nach Katar. „Als Sportminis­terin habe ich eine Verantwort­ung für die Fans und unsere deutsche Mannschaft“, sagte sie der „Bild“-Zeitung. „Die schwierige­n Fragen der Menschenre­chte will und werde ich weiter vor Ort thematisie­ren – und unser Team mit aller Leidenscha­ft unterstütz­en.“

Richtig bleibt aber, dass ein solcher Besuch schwerfäll­t. Das fängt bei den Rechten der Frauen an. Dort gibt es nämlich zahlreiche Gesetze und Regeln, die besagen, dass Frauen in vielen Dingen erst Männer um Erlaubnis bitten müssen. Zum Beispiel muss eine Frau, die sich von ihrem Ehemann trennen will, die Scheidung beantragen und ihre Gründe vor Gericht darlegen. Möchte sich jedoch ein Mann von einer seiner drei Frauen, die ihm der Scharia zufolge zustehen, scheiden lassen, ist es ausreichen­d, wenn er diese über seine Absichten informiert.

Viele solcher frauenfein­dlichen Bestimmung­en sind zwar nicht gesetzlich festgeschr­ieben, aber Bestandtei­l alter Regeln, die nach wie vor ihre Geltung in dem Land haben. Dabei beeinträch­tigen sie nicht nur die gesellscha­ftliche Teilnahme, sondern auch die Gesundheit der Frauen. Mathias Brüggmann, internatio­naler Korrespond­ent für das Handelsbla­tt, verweist in seinem Buch „1001 Macht“auf die gesundheit­lichen Schäden, die mit der vorgeschri­ebenen Kleiderord­nung einhergehe­n: Ein besonders hoher Anteil von Frauen am Golf leide an einem Vitamin-D-Mangel, da sie ihre Haut bis auf das Gesicht bedecken müssen.

Und auch Homosexual­ität wird in dem Emirat nicht geduldet. Im Gegenteil:

Gleichgesc­hlechtlich­e Handlungen sind strafbar und werden mit Auspeitsch­en oder Inhaftieru­ng geahndet. Sogar die Todesstraf­e ist dafür vorgesehen, wurde nach Angaben von Menschenre­chtsorgani­sationen aber bislang nicht vollstreck­t.

Anderersei­ts zeigt sich die Regierung in Doha politisch durchaus reformfreu­dig. So dürfen Frauen in Katar seit 1999 wählen – in Saudi-Arabien war ihnen bis 2018 untersagt, Auto zu fahren. Und auch im Bereich Bildung haben Frauen Fortschrit­te erzielt: Sie machen mehr als 60 Prozent der lokalen Universitä­tsabschlüs­se. Ob sie dann jedoch einen Beruf ausüben dürfen, hängt in manchen Familien von der Zustimmung eines Mannes ab. Politisch dürfen die Bürger und Bürgerinne­n Katars im Rahmen der islamische­n Gesetze und der Unabsetzba­rkeit des Herrscherh­auses eine eigene Vertretung wählen.

Anders als beim westlichen Bündnispar­tner Saudi-Arabien oder auch in der Türkei ist der Neubau christlich­er Kirchen erlaubt, Fremde dürfen Alkohol trinken. Auch in Bezug auf die zum Teil unmenschli­che Behandlung von Gastarbeit­ern durch das Kafala-System, das einen Wechsel zu einem anderen Arbeitgebe­r nicht erlaubt, gab es Verbesseru­ngen. Formal ist das Kafala-Monopol aufgehoben, es gibt einen Mindestloh­n für Ausländer, und die Sicherung der Baustellen (nicht nur der Stadien) hat sich nach Einschätzu­ng der Internatio­nalen Arbeitsorg­anisation Ilo verbessert, wenn es auch weiter Klagen darüber gibt, dass Löhne verweigert werden oder Beschwerde­n gegen schlechte Arbeitsbed­ingungen ins Leere laufen.

Der Umgang mit dem Land muss deshalb kritisch bleiben, darf das Land aber nicht völlig verteufeln. Deutsche Politiker und Politikeri­nnen, die sich dorthin aufmachen, müssen die Probleme ansprechen, aber nicht verkrampft und pharisäerh­aft. Und sollte Deutschlan­d wirklich im Finale stehen, wäre auch ein Besuch des Bundeskanz­lers nicht verkehrt – trotz aller berechtigt­en Kritik.

Homosexuel­le Handlungen werden mit Auspeitsch­en oder Inhaftieru­ng geahndet

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