Katar ist zu wichtig für einen Boykott
Vieles liegt beim WM-Gastgeber im Argen. Zwar unternimmt das Emirat Reformen, wirkt dabei aber nicht sehr glaubwürdig. Das Problem ist nur: In Sachen Energie ist das Land derzeit unverzichtbar. Das hat politische Konsequenzen.
Die Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaft an Katar war ein Fehler der macht- und geldorientierten Weltfußballorganisation Fifa. Mit ihren milliardenschweren Scheckbüchern konnte die katarische Herrscherfamilie das Großereignis kaufen – vielleicht war auch aktive Bestechung im Spiel. Das Fehlen von Frauen- und Minderheitenrechten, der ausbeuterische und gewissenlose Umgang mit vielen ausländischen Bauarbeitern sowie die dubiose Unterstützung islamistischer Radikaler machen das Land ungeeignet für die Ausrichtung des wichtigsten sportlichen Ereignisses in diesem Jahr.
Aber es ist nun mal entschieden, die Weltmeisterschaft hat begonnen, und mit von der Partie ist die deutsche Mannschaft, die an diesem Mittwoch ihr erstes Spiel bestreitet. Doch die Missverständnisse, die Kritik, das unwürdige Gezerre um die Kapitänsbinden, die für Toleranz werben, nehmen nicht ab. Wie sollen sich also Politiker und andere Vertreter des demokratischen Deutschland im Verlauf der WM verhalten? Sollten sie die Weltmeisterschaft boykottieren, ignorieren oder nur unter großen Protesten einen Besuch erwägen? Darf der Bundeskanzler anreisen, wenn Deutschland (überraschenderweise) doch im Finale steht?
Der Umgang mit dem Wüstenstaat Katar ist zum Lackmustest der deutschen Außen- und Wirtschaftspolitik geworden. Dabei schwankt die politische Klasse hierzulande zwischen Verurteilung und kritischer Partnerschaft. Sicher ist: Deutschland braucht derzeit den Wüstenstaat als Wirtschaftspartner. Die Kataris sind der größte FlüssiggasExporteur der Welt. Nur über sie kann sich die deutsche Wirtschaft bei der
Gasversorgung von Russland unabhängig machen. Eine echte Alternative gibt es kurzfristig nicht.
Doch das heißt nicht, all diese Vorgänge kritiklos hinzunehmen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) fährt nun nach Katar. „Als Sportministerin habe ich eine Verantwortung für die Fans und unsere deutsche Mannschaft“, sagte sie der „Bild“-Zeitung. „Die schwierigen Fragen der Menschenrechte will und werde ich weiter vor Ort thematisieren – und unser Team mit aller Leidenschaft unterstützen.“
Richtig bleibt aber, dass ein solcher Besuch schwerfällt. Das fängt bei den Rechten der Frauen an. Dort gibt es nämlich zahlreiche Gesetze und Regeln, die besagen, dass Frauen in vielen Dingen erst Männer um Erlaubnis bitten müssen. Zum Beispiel muss eine Frau, die sich von ihrem Ehemann trennen will, die Scheidung beantragen und ihre Gründe vor Gericht darlegen. Möchte sich jedoch ein Mann von einer seiner drei Frauen, die ihm der Scharia zufolge zustehen, scheiden lassen, ist es ausreichend, wenn er diese über seine Absichten informiert.
Viele solcher frauenfeindlichen Bestimmungen sind zwar nicht gesetzlich festgeschrieben, aber Bestandteil alter Regeln, die nach wie vor ihre Geltung in dem Land haben. Dabei beeinträchtigen sie nicht nur die gesellschaftliche Teilnahme, sondern auch die Gesundheit der Frauen. Mathias Brüggmann, internationaler Korrespondent für das Handelsblatt, verweist in seinem Buch „1001 Macht“auf die gesundheitlichen Schäden, die mit der vorgeschriebenen Kleiderordnung einhergehen: Ein besonders hoher Anteil von Frauen am Golf leide an einem Vitamin-D-Mangel, da sie ihre Haut bis auf das Gesicht bedecken müssen.
Und auch Homosexualität wird in dem Emirat nicht geduldet. Im Gegenteil:
Gleichgeschlechtliche Handlungen sind strafbar und werden mit Auspeitschen oder Inhaftierung geahndet. Sogar die Todesstrafe ist dafür vorgesehen, wurde nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen aber bislang nicht vollstreckt.
Andererseits zeigt sich die Regierung in Doha politisch durchaus reformfreudig. So dürfen Frauen in Katar seit 1999 wählen – in Saudi-Arabien war ihnen bis 2018 untersagt, Auto zu fahren. Und auch im Bereich Bildung haben Frauen Fortschritte erzielt: Sie machen mehr als 60 Prozent der lokalen Universitätsabschlüsse. Ob sie dann jedoch einen Beruf ausüben dürfen, hängt in manchen Familien von der Zustimmung eines Mannes ab. Politisch dürfen die Bürger und Bürgerinnen Katars im Rahmen der islamischen Gesetze und der Unabsetzbarkeit des Herrscherhauses eine eigene Vertretung wählen.
Anders als beim westlichen Bündnispartner Saudi-Arabien oder auch in der Türkei ist der Neubau christlicher Kirchen erlaubt, Fremde dürfen Alkohol trinken. Auch in Bezug auf die zum Teil unmenschliche Behandlung von Gastarbeitern durch das Kafala-System, das einen Wechsel zu einem anderen Arbeitgeber nicht erlaubt, gab es Verbesserungen. Formal ist das Kafala-Monopol aufgehoben, es gibt einen Mindestlohn für Ausländer, und die Sicherung der Baustellen (nicht nur der Stadien) hat sich nach Einschätzung der Internationalen Arbeitsorganisation Ilo verbessert, wenn es auch weiter Klagen darüber gibt, dass Löhne verweigert werden oder Beschwerden gegen schlechte Arbeitsbedingungen ins Leere laufen.
Der Umgang mit dem Land muss deshalb kritisch bleiben, darf das Land aber nicht völlig verteufeln. Deutsche Politiker und Politikerinnen, die sich dorthin aufmachen, müssen die Probleme ansprechen, aber nicht verkrampft und pharisäerhaft. Und sollte Deutschland wirklich im Finale stehen, wäre auch ein Besuch des Bundeskanzlers nicht verkehrt – trotz aller berechtigten Kritik.
Homosexuelle Handlungen werden mit Auspeitschen oder Inhaftierung geahndet