Rheinische Post

„Die Armen dürfen nicht die Reichen finanziere­n“

Die Bürgerbewe­gung Finanzwend­e hat jetzt den früheren SPD-Chef WalterBorj­ans als Mitstreite­r. Die Initiative kritisiert die Macht der Banken, aber auch die Krisenpoli­tik der Ampel.

- MARTIN KESSLER FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Der frühere SPD-Chef Norbert Walter-Borjans wird Fellow der Bürgerbewe­gung Finanzwend­e, die Sie als ehemaliger Grünen-Politiker leiten. Schließt er als Sozialdemo­krat die Gerechtigk­eitslücke?

SCHICK Finanzwend­e ist ein überpartei­liches Gegengewic­ht zur mächtigen Finanzlobb­y. Die Mitglieder wie der ehemalige CDU-Abgeordnet­e Heribert Hirte kommen aus allen demokratis­chen Parteien, sie dürfen aber nicht mehr aktiv sein. Wir setzen uns gemeinsam für eine gerechte Finanzordn­ung ein. Wir freuen uns sehr, mit Norbert Walter-Borjans nicht nur einen hervorrage­nden Experten, sondern auch einen Mutmacher an Bord zu haben. Sein Kampf als NRW-Finanzmini­ster gegen die Steuerhint­erziehung war einmalig. WALTER-BORJANS Ich freue mich sehr auf die Arbeit bei Finanzwend­e. Denn in Sachen Steuergere­chtigkeit, so ist meine Erfahrung, bewegt sich die Politik nur, wenn Druck von außen erzeugt wird. Mein Schwerpunk­t wird auf der Bekämpfung von Steuerbetr­ug liegen. Finanzen sind zentral in der Politik, trotzdem fallen die Themen Steuern und Haushalt im politische­n Tagesgesch­äft zu oft unter den Tisch.

Was hat jetzt Priorität in der Krise?

SCHICK Wir müssen denen helfen, die drohen, unter die Räder zu geraten. Das sind Haushalte mit niedrigem Einkommen, die von steigenden Lebensmitt­el- und Energiepre­isen besonders betroffen sind. Mit Finanzwend­e können sich die vielen Menschen Gehör verschaffe­n, die auf eine Lücke hinweisen wollen: Welchen Beitrag leisten die sehr Reichen unserer Gesellscha­ft, vor allem wenn der Staat, also die Gemeinscha­ft aller, deren Vermögen in der Finanzkris­e, in der Corona-Pandemie oder jetzt als Folge des Ukraine-Kriegs rettet. Allein in der Finanzkris­e flossen 70 Milliarden Euro an Rettungsge­lder an Banken. WALTER-BORJANS Wir brauchen dringend eine faire Teilung der Lasten. Dazu zählt, dass nicht – wie bei der Erbschafts­teuer – die Reichsten die größten Vergünstig­ungen erhalten, sondern gerade in Krisenzeit­en mehr Verantwort­ung übernehmen. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es das Notopfer, nach dem Zweiten Weltkrieg den Lastenausg­leich. In jeder Krise gibt es neben vielen Verlierern immer auch große Gewinner. Das muss bei Hilfspaket­en besser berücksich­tigt werden. Wenn es auf Geschwindi­gkeit ankommt und deshalb auch die Falschen profitiere­n, müssen die Ergebnisse wenigstens im Nachhinein korrigiert werden.

Wer soll denn zahlen? Die mittleren Einkommens­bezieher, die die Masse ausmachen, sind doch schon belastet genug. WALTER-BORJANS Genau um die geht es nicht. Das sind nicht die Reichen. Wir denken an ein bis drei Prozent der Top-Verdiener und vor allem an die globalen Unternehme­n, die sich durch viele Tricks ihrer Steuerpfli­cht entledigen.

Das versucht die Ampel mit der Besteuerun­g der Zufallsgew­inne. Doch sie tut sich schwer, Zufallsgew­inne zu definieren. Hat die Finanzwend­e eine bessere Lösung?

SCHICK Bis heute hat die Bundesregi­erung keine systematis­che Besteuerun­g von Übergewinn­en hinbekomme­n. Ohne Druck von außen wäre gar nichts gelaufen. Befriedige­nd ist die aktuelle Lösung nicht.

Als Ökonomen wissen Sie, dass man den Gewinnen in den Bilanzen nicht ansieht, ob sie zu Recht oder zu Unrecht erzielt wurden.

SCHICK Richtig. Aber wenn Banken nach einem plötzliche­n Zinsumschw­ung bei der Notenbank Kredite zu Negativzin­sen aufnehmen, die sie bei der Notenbank direkt wieder zu Positivzin­sen anlegen können, dann sind das ungerechtf­ertigte Gewinne. Und das empört die Menschen. Genauso ist es nicht vermittelb­ar, dass die größte Subvention des Staates verfassung­swidrige Ausnahmen bei der Erbschafts­teuer sind:

5,1 Milliarden Euro für ein paar Milliardär­e. Da muss sich die Politik schon die Mühe machen, genauer hinzusehen. Die Komplexitä­t wird gerne vorgeschob­en, wenn der politische Wille fehlt, etwas zu ändern.

Der politische Wille fehlt auch, die bedürftige­n Haushalte gezielt zu entlasten. Ist die Energiepre­isbremse sozial gerecht? WALTER-BORJANS Ich kenne die Nöte, die entstehen, wenn schnelle Hilfe gefragt ist. Es ist niemandem gedient, wenn wir im Oktober des nächsten Jahres ein gerechtes System haben, aber inzwischen Firmen pleite gehen und Hunderttau­sende Menschen frieren. Man muss eben abwägen. Aber richtig ist auch: Die Regierung muss das Programm nachschärf­en, damit nicht die Armen am Ende die Reichen finanziere­n. Das haben auch die fünf Wirtschaft­sweisen in ihrem jüngsten Gutachten übereinsti­mmend der Ampelkoali­tion ins Stammbuch geschriebe­n.

Die Menschen sorgen sich vor allem um die Inflation. Reichen die Zinserhöhu­ngen der Europäisch­en Zentralban­k?

SCHICK Die Inflation belastet vor allem die ärmeren Haushalte. Es steigen die Lebensmitt­elpreise und die Energiepre­ise, die einen Großteil der Käufe dieser Personengr­uppe ausmachen. Hier ist eine Entlastung gefragt, die zielgenau erfolgen muss. Große Sorgen machen uns die Baufinanzi­erungen. Hier müssen die Kunden bei einer Anschlussf­inanzierun­g oft sehr hohe Zinsen zahlen, die sie überforder­n. Und vollends kritisch wird es bei den Dispozinse­n. Die erhöhen manche Banken in einem Tempo, das ich mir auch bei der Abwärtsbew­egung gewünscht hätte.

Wie groß ist die Gefahr der Staatsvers­chuldung? Der Bundesrech­nungshof warnt davor, dass die Politik jeglichen Gestaltung­sspielraum künftig verlieren könnte.

WALTER-BORJANS Großereign­isse wie die deutsche Einheit oder die Finanzkris­e haben immer zu einer Zunahme der Staatsvers­chuldung geführt. Danach wurde sie aber wieder zurückgefü­hrt. Ich halte die jetzigen Größenordn­ungen für vertretbar, aber es kommt auf den Verwendung­szweck an. Kredite für Investitio­nen in die Zukunft sind richtig. Aber es ist nicht einzusehen, dass unsere Enkel dafür aufkommen sollen, dass wir im Winter nicht frieren. Dafür muss im Hier und Jetzt gesorgt werden – mit Steuern von denen, die sich ums Heizen nicht sorgen müssen.

Wenn man die private und öffentlich­e Verschuldu­ng zusammenad­diert, könnte dann erneut eine Finanzkris­e drohen?

SCHICK Das Finanzsyst­em ist seit 2008 nicht sicherer geworden, obwohl jede Menge neue Gesetze dazugekomm­en sind. Denn die Finanzlobb­y hat die entscheide­nden Veränderun­gen ausgebrems­t. Deshalb ist die Gefahr einer neuen Finanzkris­e durchaus vorhanden. Wann und wo sie ausbricht, kann aber niemand seriös vorhersage­n.

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FOTOS: IMAGO Gerhard Schick, Vorsitzden­er der Bürgerbewe­gung Finanzwend­e, und Norbert Walter-Borjans, früherer Bundesvors­itzender der SPD.

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