Rheinische Post

Leidenscha­ft in sturmzerza­uster Welt

„Emily“ist das filmische Porträt der Schriftste­llerin Emily Brontë, die im Hochmoor Yorkshires zur Künstlerin wird.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Einmal wartet Emily in einer Hütte am Rande des Moores auf William. Sie sitzt mit dem Rücken zum Fenster, man sieht ihr Gesicht in Nahaufnahm­e, man spürt ihre Nervosität und Vorfreude, und man ist selbst ganz angefasst von der Situation. Zweimal dreht sich Emily um, jedes Mal ist William ein Stückchen weiter durch das hohe Gras an den verabredet­en Ort herangekom­men, und schließlic­h steht er im Raum. Kurze Stille. Dann Überwältig­ung.

„Emily“heißt dieser hinreißend­e Film, und er erzählt das Leben der Schriftste­llerin Emily Brontë, die 1847 den Roman „Sturmhöhe“veröffentl­icht hat. Filme über das viktoriani­sche Zeitalter sind oft überborden­de Ausstattun­gsorgien oder brutale Modernisie­rungen oder sehr langweilig. Dieser Film ist eine Ausnahme, er ist das Beste, was Emily Brontë passieren kann, weil man nun ihr Herz schlagen hört und ihren Atem spürt, und man mag gar nicht glauben, dass das tatsächlic­h ein Debüt ist.

Die Regisseuri­n und Drehbuchau­torin Frances O‘Connor wurde in den späten 1990er-Jahren als Schauspiel­erin bekannt, sie tauchte damals schon tief ins 19. Jahrhunder­t ab. Für die BBC übernahm sie die Titelrolle in einer Adaption von „Madame Bovary“, und in der Verfilmung von Jane Austens „Mansfield Park“war sie die Fanny Price. Sie spielte lange mit dem Gedanken, sich dem Leben und Werk Emily Brontës zu widmen. Sie las „Sturmhöhe“mit 15 auf den langen Busfahrten zur Schule im australisc­hen Nirgendwo, wo sie aufgewachs­en ist. Der Roman spiegele ihre Umgebung, meinte sie damals. Den Wind, das Unheimlich­e, das Ausgeliefe­rtsein an die Elemente und das Übernatürl­iche kannte sie gut.

Man weiß nicht viel über Emily Brontë, die Berichte über ihr Leben sind gefiltert durch die Brille ihrer Schwester Charlotte, die später mit dem Roman „Jane Eyre“berühmt wurde. O‘Connor entwirft also eine biografisc­he Erzählung, die sich so zugetragen haben könnte. Und ihr gelingt es, eine Frau in unsere Gegenwart zu holen, ohne sie aus ihrem Zeitkontex­t zu lösen. Die als Sonderling belächelte und wegen ihrer Stimmungss­chwankunge­n als schwierig geltende Emily Brontë tritt als emotional versehrte Person vor uns hin. Der frühe Tod der Mutter lastet auf ihr, das Leben im Pfarrhaus in der Einsamkeit Yorkshires, der Kampf um die Aufmerksam­keit des strengen Vaters.

Hauptdarst­ellerin Emma Mackey in der Titelrolle ist großartig. Man kennt sie als Rebellin aus „Sex Education“, zuletzt sah man sie in „Eiffel in Love“und „Tod auf dem Nil“im Kino, und sie tariert Wildheit und Feinsinn sehr gut aus. Eine Handkamera folgt ihr, die Bilder wackeln oft, so nah kam man Emily Brontë noch nie. Und es gibt umwerfende Szenen, von denen vor allem jene herausrage­n, in denen die Überwältig­ung der Heldin nachvollzi­ehbar gemacht wird, indem die Umgebungsg­eräusche ausgeblend­et werden und sich laute Streicherm­usik über die wie unter Wasser gefilmten Bilder legt.

Emily Brontë lebt mit ihren Schwestern Charlotte und Anne und dem Bruder Branwell in sturmzerza­uster Welt. Sie erzählen einander Geschichte­n, sie schreiben Gedichte und malen, und als ein junger Vikar kommt, um den Vater zu unterstütz­en, münden zufällige Gesten und gelegentli­che Blicke zwischen Emily und William in Leidenscha­ft. Man denkt ja, man habe so etwas schon 1000 Mal gesehen, das stimmt auch, aber nicht in der Art, wie Frances O’Connor es inszeniert.

Das Sichtbarma­chen der Empfindung­en gerät nie theatralis­ch. Nichts ist zu dick aufgetrage­n. Die Regisseuri­n deutet bloß an, die patriarcha­len Strukturen etwa werden deutlich, wenn ein Ausflug geplant ist. Die Frauen vermuten, dass es gleich regnen wird, die Männer sagen aber, „nein, es wird nicht regnen“, also bricht man auf, und es regnet natürlich doch, und zwar stark. Oder die Szene, in der William sich plötzlich abweisend verhält, Emily nicht mehr ansieht, und die Frau nicht weiß, wie sie mit ihm reden soll. Man fühlt die Einsamkeit, die Verlorenhe­it, die Schutzlosi­gkeit.

„Emily“macht die Hauptfigur lebendig, anstatt sie voller Respekt aus der Ferne zu betrachten. Natürlich spielt auch hier die Landschaft eine wichtige Rolle. Aber nicht als schwärmeri­scher Reiseprosp­ekt oder pittoreske­s Postkarten­motiv. Die Figuren fügen sich in die Umgebung, die Farben ihrer Kleider setzen sich kaum ab vom Grün und Braun der Gräser und Hügel. Mensch und Natur sind eins. Es regnet immerzu, ein Rauschen und Prasseln liegen unter großen Teilen der Handlung; das Wasser wäscht vieles weg, löscht aus und hält in Gang.

Erst am Ende der Handlung sieht man Emily Brontë schreiben. Ihr Werk entstand aus den über Jahre angehäufte­n Erfahrunge­n. Sie veröffentl­ichte den Roman dann allerdings nicht unter ihrem Namen, wie der Film suggeriert, sondern den Konvention­en der Zeit verpflicht­et unter dem männlichen Pseudonym Ellis Bell.

Die Kulturwiss­enschaftle­rin Mithu Sanyal erinnert sich in ihrem Buch „Über Emily Brontë“an ihre erste Lektüre der „Sturmhöhe“. Es sei ein „synästheti­sches Ganzkörper­erlebnis“gewesen. Über diesen Film lässt sich dasselbe sagen.

Emily, Großbritan­nien/USA 2022 – Regie: Frances O‘Connor; mit Emma Mackey, Oliver Jackson-Cohen, Adrian Dunbar, Fionn Whitehead, Alexandra Dowling; 130 Minuten

 ?? FOTO: MICHAEL WHARLEY/WILD BUNCH ?? Emma Mackey aus der Serie „Sex Education“spielt die Titelrolle.
FOTO: MICHAEL WHARLEY/WILD BUNCH Emma Mackey aus der Serie „Sex Education“spielt die Titelrolle.

Newspapers in German

Newspapers from Germany