Die Politik regiert den Sport
Ob Berlin 1936, Argentinien 1978 oder Peking 2022 – die Politik spielte immer mit, wenn Athleten um Medaillen bei Olympischen Spielen oder Fußballer um WM-Titel rangen. Und besonders groß war immer die Heuchelei. So ist es auch in diesem Jahr in Katar.
Die Sommerspiele 1936 in Berlin bewegen immer noch die Gemüter. Die einen bleiben fasziniert, die anderen sehen darin das Ende der unschuldigen Spiele. Die von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels perfekt inszenierte Show, die vermeintliche Weltoffenheit und die angebliche Friedfertigkeit übertünchten geschickt ein durch und durch gewalttätiges Regime, das später mit dem millionenfachen Judenmord das größte Verbrechen gegen die Menschheit begehen sollte. Die Diskriminierung der Juden und die Verhaftung und Folterung von Andersdenkenden waren schon vor 1936 Thema. Vor allem in den USA und in Großbritannien regte sich lautstarker Protest gegen die Spiele in einem Land mit Diktatur.
Es war dann ein gewisser Avery Brundage, ein schwerreicher Amerikaner und früherer OlympiaTeilnehmer im Fünfkampf, der als Sportfunktionär die Entsendung eines US-Teams durchsetzen konnte. Damit waren die Spiele gerettet. Die in Deutschland geltenden Nachteile für die Juden rechtfertigte Brundage mit dem Verweis auf den angesehenen New York Athletic Club. „Dort sind auch keine Juden und Schwarzen erlaubt.“In der USMannschaft ersetzte er dann zwei jüdische Sportler in der Laufstaffel durch andere Athleten. Damit konnte eine „vorzeigbare“Mannschaft antreten, eben ohne jüdische Teilnehmer.
Seiner Karriere im Internationalen Olympischen Komitee hat das nicht geschadet. Er wurde 1952 dessen Präsident und ließ auch 1972 die Spiele in München weiterlaufen, obwohl palästinensische Terroristen bei einer spektakulären Geiselnahme im olympischen Dorf elf israelische Sportler ermordet hatten. Vier Jahre zuvor, bei Olympia in Mexico City, hatte Brundage zwei USAthleten aus dem Team entfernen lassen, die bei der Siegerehrung die Faust für die schwarze Black-Panther-Bewegung erhoben. Es sollte
ein Zeichen gegen die Rassendiskriminierung in den USA sein, das Tommie Smith und John Carlos als erfolgreiche 200-Meter-Läufer auf dem Podest äußerten. Dem damaligen IOC-Präsident Brundage war das entschieden zu viel, und er bezeichnete es als „üble Demonstration“gegen die amerikanische Flagge durch Schwarze. Smith und Carlos bezahlten ihren Protest mit einer lebenslangen Verbannung von allen Sportereignissen. Bezeichnend, wie die internationalen Sportverbände schon damals mit berechtigter Kritik umgingen.
Natürlich spielte auch die große Politik bei Olympia – und zum Teil auch bei Fußball-Weltmeisterschaften – immer mit. Nach München
fanden finanziell desaströse Sommerspiele im kanadischen Montreal statt. 16 afrikanische Sportverbände boykottierten die Spiele, weil zuvor der nicht-olympische neuseeländische Rugby-Verband ein Match mit dem Team des Apartheid-Staats Südafrika austrug. Olympia in Moskau 1980 wurde von vielen westlichen und arabischen Staaten unter Führung der USA gemieden, weil die UdSSR ein Jahr früher in Afghanistan einmarschiert war. Als Revanche blieben die Sowjetunion und ihre sozialistischen Satellitenstaaten den Spielen 1984 in Los Angeles fern. Olympia schien in wechselseitige Boykott-Arien zu verfallen. Erst Seoul 1988 war wieder boykottfrei, wurde aber beim 100-Meter-Lauf durch die Doping-Affäre des Jahrhunderts überschattet, als der Fabel-Weltrekord des Kanadiers Ben Johnson wegen unerlaubter chemischer Hilfsmittel annulliert wurde.
Im Vergleich zu Olympia zeichneten sich die Fußball-Weltmeisterschaften eher durch eine gewisse Politik-Ferne aus. Zwar schwelgte Deutschland nach dem unerwarteten Sieg der DFB-Elf 1954 in Bern in nationalistischen Gefühlen, die im Ausland und bei inländischen Kritikern wegen ihrer Anklänge an die NS-Zeit große Besorgnis hervorriefen. Aber im Nachhinein stellte sich die erste Weltmeisterschaft als Stabilisierung der Bundesrepublik und ihrer zarten demokratischen Anfänge heraus.
Vor Katar war die erste große Bewährungsprobe für den deutschen Fußballverband die WM 1978 in Argentinien, zu der Deutschland immerhin als Titelverteidiger anreiste. Das Turnier in diesem südamerikanischen Land wurde bereits 1966 vergeben – kurz vor der Machtübernahme durch rechte Militärs. Die Kritik am Austragungsort nahm im Vorfeld der WM wegen der Tausenden von Verschleppten und Getöteten durch das Regime schon beachtliche Größenordnungen an. Allerdings forderte niemand – auch nicht die politische Linke – den Boykott. Aber viele hätten vom deutschen Team mehr Haltung erwartet. Den Ton gab der damalige DFB-Präsident Hermann Neuberger vor, der
offen Partei für die Diktatur ergriff: „Die Wende zum Besseren trat mit der Übernahme der Macht durch die Militärs ein.“Da passte es, dass der hochdekorierte Weltkriegsflieger und Alt-Nazi Hans-Ulrich Rudel, der in Argentinien lebte, das Quartier der DFB-Elf besuchte und dort offiziell empfangen wurden.
Bemerkenswert unpolitisch verlief dagegen die Fußball-WM in Russland 2018. Weder die widerrechtliche Annexion der Krim durch das Putin-Regime noch die fürchterlichen russischen Bombardements in Syrien führten zu einer ernsthaften Diskussion über Ausrichtung der WM und möglichen Boykott. Die Kritik blieb auf die einschlägigen Organisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch beschränkt. Wie in Katar machte auch Moskau gegen Homosexualität Front (Gesetz gegen „homosexuelle Propaganda“). Und wie in Katar gab es herbe Kritik an der Behandlung der Bauarbeiter bei der Errichtung der Stadien und der notwendigen Infrastruktur.
Die Ungleichbehandlung von Russland und Katar, Schweigen auf der einen Seite, lautstarker Protest auf der anderen Seiten, gibt zu denken. So berechtigt und auch angebracht die Kritik am aktuellen WM-Gastgeber ist – bei Russland brauchte es einen verheerenden Angriffskrieg, bevor das Land zumindest aus westlicher Sicht zum internationalen Paria wurde. Die Entschiedenheit gegen Katar sollte deshalb zum neuen Maßstab werden. Sonst ist sie nichts als Heuchelei.