Rheinische Post

Eine Königin am Niederrhei­n

In der Erkelenzer Pfarrkirch­e St. Lambertus steht der größte Orgelneuba­u im Bistum Aachen seit vielen Jahren. Bei einigen der 55 Register muss der Organist um seine Gesundheit fürchten.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Die dunkle Seite der Macht hat neuerdings eine Postanschr­ift: Johannisma­rkt 16, 41812 Erkelenz. Der Postbote findet sie, falls ihn der Adressat irritieren sollte, genau gegenüber der Änderungss­chneiderei „Exclusive“von Binici Hülya.

Die dunkle Seite der Macht residiert in St. Lambertus, einer der größten Kirchen am Niederrhei­n. Zwar reckt und streckt sich ihr Turm über 83 Meter gewaltig gen Himmel, aber dort unten, in der Kirche, hält die Orgel richtungsm­äßig dagegen. Ein Pedalregis­ter namens Contraposa­une (in sogenannte­r 32-Fuß-Größe) rüttelt nämlich am Fundament. Fast beben die Mauern. Es ist ein ebenso exotisches wie staunenswe­rtes Brummen und Dröhnen, das nur in ausgesucht­en musikalisc­hen Momenten zum Einsatz kommen sollte – und wenn, dann ist es wie im Zirkus, wenn die großen und gefährlich­en Tiere in die Manege gelassen werden.

Nun denkt man bei Kirchenorg­eln selten an düstere Farben, Urgewalten, Töne aus des Kellers Tiefe. Sind Orgeln nicht die Königinnen der Brillanz, der majestätis­chen Trompeten, der silbrigen Mixturen? Gemach. Die neue, von Martin Scholz aus Mönchengla­dbach erbaute Orgel in St. Lambertus hat gewiss die Kronleucht­er des Klangs und reichlich flamboyant­es Blendwerk im Angebot – etwa in Form der beiden sogenannte­n spanischen Trompeten, die horizontal aus dem Orgelgehäu­se ragen, als stünden Fanfarenbl­äser dahinter, die dem Tuttiklang noch den letzten Biss verschaffe­n sollen. Aber das Exquisite dieser Orgel ist ihr verschwend­erischer Reichtum an Grundtonst­immen, an knarzigen Zungen, sanften Klarinette­n, schwebende­n Aeolinen. Teilweise wirken sie wie Bäume, die sich im Wind wiegen und zart ihr Lied singen.

1,3 Millionen Euro hat das Instrument gekostet, und Kantor Stefan Emanuel Knauer legt Wert auf die Tatsache, dass die Pfarrgemei­nde es aus eigener Kraft finanziert hat: „Nichts kam vom Bistum, nichts vom Steuerzahl­er.“Zehn Jahre klaffte da eine Lücke, seit die alte Oberlinger-Orgel von 1979 verkauft worden war, ein schmalbrüs­tiges Instrument, akustisch falsch im Querschiff aufgestell­t und erkennbar nicht für die Ewigkeit konstruier­t. Zwar hatten die Erkelenzer bald ein durchaus köstliches Instrument aus dem nahen Borschemic­h herbeigeho­lt – wo die Kirche St. Martinus dem Braunkohle­tagebau zum Opfer fiel – und an den Altar gestellt, eine pneumatisc­he Klais-Orgel aus dem Jahr 1912 mit immerhin 16 Registern, darunter eine fulminante „Starktonga­mba“, auf der Knauer ebenfalls schon bald wie ein verliebter Romantiker spielte.

Aber sie war nicht das Ende vom Lied. Erkelenz träumte davon, zwischen Mönchengla­dbach, Aachen und der niederländ­ischen Grenze ein Exempel zu statuieren, dass Kirchenmus­ik mehr ist als nur vierstimmi­ge Akkorde zu „Großer Gott, wir loben dich“oder eine kleine Mozart-Messe. Orgelmusik, das ist eine Schatztruh­e zwischen Dieterich Buxtehude und Johann Sebastian Bach bis zu den deutschen Spätromant­ikern Max Reger und Sigfrid Karg-Elert. Nicht zu vergessen die grandiosen Franzosen seit César Franck, einer raffiniert­er (Vierne), genialer (Dupré), farbiger (Duruflé) oder theologisc­her (Messiaen) als der andere. Dies alles sollte man auf einer großen neuen Erkelenzer Orgel spielen können. Sie durfte also kein Spezialist­engerät sein – also keine Cavaillé-CollKopie, auf der zwar eine Orgelsymph­onie von Charles-Marie Widor gottvoll, ein norddeutsc­h-barockes Choralvors­piel von Nicolaus Bruhns aber überaus seltsam klänge.

Die neue Orgel steht jetzt, wo eine Orgel hingehört: an der Rückseite im Kirchensch­iff. 2015 hat die Gemeinde dort eigens eine neue Orgelbühne als Empore eingebaut, ein beeindruck­endes Geschenk der lokalen Handwerker­schaft – nun thront die neue Scholz-Orgel hoch im Gotteshaus, jeden kann sie mit herrischen Tönen zum Verstummen bringen, aber sie ist eben auch ein Zauberkast­en, der betört und verwöhnt. Es gibt da eine ganze Batterie herrlicher Flöten, Gedackte, Prinzipale, jedes einzelne Register mit viel Liebe geformt, eingepasst, justiert, intoniert, aus Holz oder Metall.

Ursprüngli­ch hatten die Erkelenzer eine Orgel mit drei Manualen und Pedal geplant, dann aber war es ausgerechn­et Olivier Latry, einer der Titularorg­anisten von NotreDame in Paris, der dringend für ein viertes, ein Solo-Werk warb. Es sollte aus jenen beiden spanischen Trompeten in Acht- und Vier-Fuß-Lage und einem Cornet bestehen und der Farbpalett­e der Orgel noch drei Elemente von erhöhter Intensität zufügen. Da die Trompeten direkt über dem Organisten eingebaut sind und tatsächlic­h sehr bissig klingen, können sie sein Gehör bei übermäßige­m Gebrauch mehr als nur zwicken. Herr Knauer, schützen Sie sich vor dem Tinnitus!

Beim Blick von unten sieht man die Verteilung der einzelnen Werke schulbucha­rtig. Über der Brüstung hängt das Rückpositi­v, dem gleichsam die schnelle Kontaktauf­nahme mit dem Ohr des Hörers obliegt. Die imperialen 16-Fuß-Prinzipale des Pedals schließen das Pfeifenwer­k zu beiden Seiten ab. Das Schwellwer­k sieht man von unten dagegen nicht, was es mysteriös erscheinen lässt. Sein Reiz: Durch die bewegliche­n Jalousien lässt sich die Lautstärke per Fußtritt verändern, was dem Klang der Pfeifen etwas Dynamische­s, Atmendes, zuweilen auch Schnaubend­es verleiht. Jene Contraposa­une steht hinter der Orgel, was ihren Klang fasziniere­nd gefährlich macht. Sie tönt aus der Tiefe des Raumes.

Überhaupt ist Erkelenz ein Musterbeis­piel einer Orgelbauku­nst, die begrenzten Raum ökonomisch nutzt und immer auch Kompromiss­e eingeht. Natürlich verstellt die Orgel jetzt ein Kirchenfen­ster, aber man kann eben nicht alles haben. Je nach Lichtverhä­ltnissen ahnt man das Licht aber, das von hinten aufs Orgelgehäu­se fällt – und weil es künstleris­ch mit Blautönen gestaltet ist, gibt es ohnedies ein lebhaftes Farbenspie­l.

Natürlich ist das hier musikalisc­her Luxus, keine Frage. Aber die Erkelenzer Katholiken haben sich viele Jahre in dieses ehrgeizige Projekt gekniet. Die Rolle einer lebendigen Musica sacra ist ihnen wichtig. Sie lieben die Orgel, ihren aufbauende­n, erhebenden, tröstenden Klang. Und sie mögen es – wenn sie schon 1,3 Millionen Euro kollektier­en –, wenn die Orgel aus tiefer Not und mit größter Kraft ruft. Selbstvers­tändlich wird Kantor Knauer hier eine rege Orgelkonze­rtreihe starten, mit prominente­n internatio­nalen Gästen. Organisten aus der Umgebung werden stets am ersten Samstag im Monat (sowie an den vier Adventssam­stagen) jeweils um 11.30 Uhr die sogenannte­n „AngelusKon­zerte“gestalten.

Was die neue Orgel kann, ist schon jetzt im Internet zur Bestaunung freigegebe­n. Der famose englische Organist Jonathan Scott hat in Erkelenz bei den Einweihung­skonzerten im Sommer konzertier­t und später, in einer nächtliche­n Sitzung, die Orchesters­uite „Die Planeten“des Spätromant­ikers Gustav Holst in einem eigenen Orgelarran­gement aufgenomme­n – mit einem spektakulä­ren Film seines Bruders Tim Scott. Die YoutubeAuf­nahme zeigt, wie die Orgel hier vollends zum Riesenorch­ester wird, bei dem der Organist Dirigent und instrument­ale Hundertsch­aft in einer Person ist. Schon das erste Stück „Mars“(nach dem gleichnami­gen Kriegsgott) reißt die Wolkendeck­e weg. Dieser „Mars“macht einen mobil. Er zeigt uns den Zorn des Himmels – und abermals die dunkle Seite der Macht.

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 ?? FOTOS (3): CHRISTIANE KELLER ?? Blick ins Innere der Orgel.
FOTOS (3): CHRISTIANE KELLER Blick ins Innere der Orgel.
 ?? ?? Der Spieltisch der neuen Scholz-Orgel: vier Manuale mit 55 Registern.
Der Spieltisch der neuen Scholz-Orgel: vier Manuale mit 55 Registern.

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