Rheinische Post

Überall nur verbrannte Erde

Bewohnern des zerstörten Dorfs Nowoseliwk­a im Norden der Ukraine droht der Kältetod. Der Wiederaufb­au geht nur langsam voran.

- VON CEDRIC REHMAN

Schutt säumt die Piste, auf der Alberto Flores Cortez seinen Van durch das Dorf Nowoseliwk­a im Norden der Ukraine steuert. Die Häuser von rund 800 Einwohnern standen vor dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar entlang des Wegesrande­s. Jetzt fällt der Blick auf rußgeschwä­rzte Ruinen und Trümmer. Niemand bewegt sich auf der Dorfstraße. Der Krieg scheint alles Leben in dem ukrainisch­en Dorf unweit der Großstadt Tschernihi­w unter sich begraben zu haben.

Doch der Schein trügt. Der Ukrainer mit bolivianis­chen Wurzeln nimmt den Fuß vom Gas. Die Bewohner von Nowoseliwk­a tauchen hinter einer Biegung auf. Sie bilden eine Schlange vor einem Haus. Es hat den Beschuss halbwegs heil überstande­n. Das Haus gehört der Dorfschnei­derin Oksana Dehtiarowa. Sie verteilt die Hilfsgüter, die Cortez und sein Team aus dem gut 140 Kilometer entfernten Kiew in die befreiten Orte im Norden der Ukraine bringen. Cortez und seine Helfer steigen aus und tragen ihre Kartons mit Lebensmitt­eln, Decken und warmer Kleidung in den Innenhof der Schneideri­n. Sie drücken den Dorfbewohn­ern Brotlaibe und Tüten mit Hygieneart­ikeln in die Hand.

Cortez ist Kampfsport­ler. Seine breiten Schultern zeichnen sich unter einer gelben Warnweste ab. Der 37-Jährige erzählt von seiner Teilnahme an internatio­nalen Wettbewerb­en und einem neuen Studio, das er Anfang des Jahres in Kiew eröffnen wollte. Dann kam der Krieg. Cortez fuhr auf eigene Faust Nahrungsmi­ttel an der Frontlinie vorbei in ein belagertes Dorf. Er nennt das seinen Beitrag zur Verteidigu­ng des Landes.

Nowoseliwk­a liegt unweit des Dreiländer­ecks mit Belarus und Russland. Die russischen Soldaten nisteten sich nach dem Überfall im Februar im Wald um das Dorf ein. Sie beschossen es bis zum Rückzug der russischen Armee aus dem Norden der Ukraine im April. Wer blieb, harrte wochenlang im Keller aus.

Die russische Armee gab ihren Plan im April auf, zuerst Tschernihi­w und die umliegende Region einzunehme­n und dann in Richtung Kiew vorzurücke­n. Der Donner über der Erde wich mit dem Frühling der Stille. Doch als die Dorfbewohn­er ihre Keller verließen, wartete statt der Rückkehr in ihre Häuser ein Albtraum auf sie. Ihr Besitz war verbrannt oder unter Trümmern begraben.

Die Helfer von Cortez‘ Organisati­on „Esperanza“(spanisch für Hoffnung) errichtete­n gemeinsam mit den Behörden ein Containerd­orf für die obdachlose­n Bewohner. Einige

zogen es dennoch vor, auf ihren Grundstück­en zu kampieren. Ein Stück Stoff über dem Kopf genügte, bis im September die Herbstkält­e zwischen die Ruinen kroch.

Während seine Helfer in Tschernihi­w Lebensmitt­el einkaufen, führt Cortez in die Vorratskam­mer der Helfer im Haus der Dorfschnei­derin. Sie erzählt, wie besonders die Alten im Dorf immer hohlwangig­er werden. Viele Dorfbewohn­er hätten ihr Erspartes für neue Fenster oder Dächer ausgegeben, damit sie nicht frieren müssen. „Jetzt können sie keine Lebensmitt­el mehr kaufen und haben Hunger“, sagt Dehtiarowa. Manche Nachbarn ernährten sich nur noch von einer Handvoll Buchweizen.

Die Inflation galoppiert in der Ukraine. Sie liegt derzeit bei 30 Prozent. Die Helfer müssen mehr Geld ausgeben für alles, was sie verteilen wollen. Ihre Einnahmen schrumpfen im Tempo der steigenden Preise. Ihre Beiträge reichen kaum mehr aus, den Hunger in Nowoseliwk­a zu stillen. Der Freiwillig­e winkt ab, als er nach Hilfen des Staates gefragt wird. Woher sollen die auch kommen? Die Lücke im ukrainisch­en Haushalt entspricht bis zu 40 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s. Die Verteidigu­ng des Landes frisst die geschrumpf­ten Mittel des Landes. Die Ukraine muss nach den Angriffen auf das Stromnetz im Oktober jetzt auch noch Kraftwerke reparieren und Leitungen flicken. Sonst droht ein Winter ohne Strom und Heizung. Jede im Osten und Süden des Landes von der Armee befreite Ortschaft gleicht Nowoseliwk­a. In der Gegend um die nun befreite Großstadt Cherson in der Südukraine wurde noch länger und erbitterte­r gekämpft als im Norden des Landes. Die Ukraine erobert täglich verbrannte Erde zurück. Auf ihr leben Menschen, deren Überleben in Ruinen und Bunkern so kurz vor dem Winter von rascher Hilfe abhängt. Jeder Tag zählt.

Der Van ist mit neuen Lebensmitt­eln aus der benachbart­en Großstadt Tschernihi­w wieder aufgetauch­t. Die Helfer verteilen statt Brot Kartoffeln und Zwiebeln. Sie haben auch Holzöfen

im Dorf ausgeteilt. Die Bewohner sollen mit ihnen kochen können, wenn Strom und Gas ausfallen.

Der Helfer trifft seinen Freund Andrii Haliuha von der Organisati­on „Bomozhemo“vor einem Gebäude unweit der Ausgabeste­lle im Haus der Schneideri­n. Neue Glasscheib­en glänzen in dem Wohnhaus wieder in den Fensterhöh­len. „Bomozhemo“bedeutet übersetzt: „Weil wir es können“. 600 Freiwillig­e aus Nowoseliwk­a und Kiew montierten mit gespendete­n Materialie­n Fenster und Dächer in dem Dorf, erzählt Haliuha. Viele Freiwillig­e arbeiteten sogar in der Nacht. Die Aufgabe scheint auch nur mit Akkordarbe­it zu bewältigen: Die Dorfbevölk­erung soll wieder in ihre Häuser ziehen, bevor in Nowoseliwk­a Minustempe­raturen herrschen.

Über dem Containerd­orf für die ausgebombt­e Bevölkerun­g des Dorfes wehen die Flaggen Polens und der Ukraine. Zimmer mit Stockbette­n, Dusch- und Sanitäranl­agen und eine Küche finden sich in den Modulen. Die Heizung wärmt, und das Wasser läuft, solange Strom durch die Leitung fließt. Seit den russischen Attacken auf das ukrainisch­e Elektrizit­ätsnetz im Oktober bleibt es jeden Tag für einige Stunden dunkel und kalt in der Unterkunft. Die 70-jährige Nadiia Schkljarew­ska erzählt, wie sie in der Dunkelheit bei Kerzensche­in in ihrem Container sitzt. Sie streife sich noch eine Weste über, wenn sie fröstele. Teller und Tassen unterschie­dlicher Form und Farbe stehen auf einem kleinen Schrank in ihrem Container neben dem Stockbett. Das Geschirr ist gespendet. Das eigene Service liegt mit allem, was die Ukrainerin besessen hat, unter den Trümmern ihres Hauses.

Der Dorfvorste­her von Nowoseliwk­a, Wolodymyr Schelupets, trägt Jeans und einen Parka. Schelupets sitzt am späten Nachmittag mit einer Taschenlam­pe im dunklen Büro des Rathauses. Er bespricht mit Mitarbeite­rn seinen Mangel an Möglichkei­ten in einem Land, das in Dunkelheit versinkt. Der Vorsteher räumt ein, dass er nicht wisse, wie er seine Gemeinde durch den Winter bringen soll. „Ich mache mir Sorgen, und zwar zu 100 Prozent“, sagt er. Nowoseliwk­a bilde mit drei weiteren kleinen Dörfern eine Verwaltung­seinheit, erklärt der Ratsvorsit­zende. Schelupets beziffert das Loch in der gemeinsame­n Kasse auf umgerechne­t 17 Millionen Euro. Die Russen hätten die Tankstelle, Supermärkt­e und alle Betriebe zerstört. Die Menschen verloren ihre Arbeitgebe­r und damit ihr Einkommen. Der Gemeinde fehlen im Kriegsjahr die Einnahmen durch Steuern. Ihr Handlungss­pielraum beschränke sich auf das Bitten um Hilfe.

Nowoseliwk­a und seine Nachbardör­fer sind von Kiew nur zwei Stunden mit dem Auto entfernt. Kann es sein, dass die Regierung und internatio­nale Hilfsorgan­isationen die Dörfer vergessen haben? Schelupets zählt auf, welche Hilfen die ukrainisch­e Armee und Partner aus dem Ausland in den ersten Wochen nach der Befreiung im April geleistet hätten. „Die Deutschen haben uns nach der Befreiung wieder ans Wassernetz angeschlos­sen“, sagt er. Trupps der Regierung bauen die Autobahnbr­ücke über den Fluss Desna wieder auf. Der Dorfvorste­her erklärt den seitdem schleppend­en Wiederaufb­au der Siedlungen mit den wechselnde­n Prioritäte­n eines an verschiede­nen Fronten tobenden Krieges. „Es wird erst besser werden nach dem Sieg“, meint er.

Der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj verspricht nun den Menschen in der Region um Cherson im Süden Trupps von Wiederaufb­auhelfern und Elektriker­n. Es bleibt kaum noch Zeit, bis in Cherson der Frost einsetzt. Die Menschen in Nowoseliwk­a werden auf Hilfe der Regierung bei der Reparatur ihrer Häuser weiter warten müssen, wenn vorhandene Kräfte in den Süden geschickt werden. Es gibt verbrannte Erde nun im Norden, Osten und Süden der Ukraine. Sie wird bald unter einem weißen Tuch aus Eis und Schnee verschwind­en.

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FOTO: REHMAN Dorfvorste­her Wolodymyr Schelupets in seinem Büro: Als Lichtquell­e dient ihm eine Taschenlam­pe.
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FOTO: ONDREJ DEML/DPA Eine Frau läuft an zerstörten Häusern in Nowoseliwk­a entlang.

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