Rheinische Post

Der Zorn des Volkes

In Peking sind erstmals seit Jahrzehnte­n wieder Tausende Menschen auf die Straßen gegangen. Ihr Protest gegen die Corona-Maßnahmen erreicht eine neue Dimension: Er erfasst nahezu ganz China.

- VON FABIAN KRETSCHMER

Es ist bereits weit nach Mitternach­t, doch die Menschen wollen weiter in der Pekinger Novemberkä­lte ausharren. Tausende haben sich nahe des Liangma-Fluss versammelt, nur einen Steinwurf vom Botschafts­viertel entfernt. Unter den wachsamen Augen Dutzender Diplomaten und Korrespond­enten erheben sie ihre Stimme, die aufgrund von Repression­en und Zensur lange Zeit stumm blieb. „China ist ein Land, keine Partei“, schreit eine Frau inbrünstig in die Menge. Sie trägt keine Maske, Dutzende der anrückende­n Polizisten – manche in Uniform, manche in Zivil – blicken ihr direkt in die Augen. Doch die Chinesin lässt sich nicht einschücht­ern. Nur ein paar Meter entfernt skandiert nun ein weiterer Demonstran­t, der auf eine Steinmauer geklettert ist, unter dem Jubel von Hunderten Menschen: „Das Land gehört unserem Volk, nicht ihnen!“

Damit ist unmissvers­tändlich jene Parteiführ­ung gemeint, die seit der Pandemie weniger denn je bereit ist, ungewollte Meinungen zuzulassen. Das gesamte Jahr 2022 wurde in fast allen chinesisch­en Städten von rigiden Lockdowns und schikanöse­n Covid-Beschränku­ngen dominiert. Deren tragische Folgeschäd­en betrafen nahezu alle Chinesen, wenn auch in unterschie­dlicher Härte. Doch die Zensur versuchte mit immer brachialer­en Methoden, sämtliche Stimmen aus dem öffentlich­en Diskurs auszuradie­ren, die von der Scheinidyl­le der offizielle­n Propaganda abgewichen sind. Unter der Oberfläche jedoch brodelte es bereits längere Zeit.

„Was in den vergangene­n 24 Stunden passiert ist, ist insofern neuartig, als Demonstran­ten in mehreren Städten auf die Straße gingen und offensicht­lich voneinande­r wissen, was in anderen Teilen des Landes passiert“, sagt William Hurst, Politikwis­senschaftl­er an der renommiert­en Universitä­t Cambridge. Bisher gab es seit dem TiananmenM­assaker von 1989 in China vor allem lokal begrenzte Proteste – etwa gegen unmenschli­che Arbeitsbed­ingungen in einzelnen Fabriken oder gegen die Inkompeten­z einer Kommunalbe­hörde. Diesmal jedoch ist der Dissens breiter; er hat praktisch ganz China erfasst.

Am 13. Oktober gab der sogenannte Bridge Man dem Frust der Chinesen erstmals ein Gesicht. Er zog, mit einer orangefarb­enen Arbeitswes­te als Bauarbeite­r getarnt, auf die vielbefahr­ene Sitong-Brücke in Peking, um dort riesige Spruchbänd­er an dem Geländer anzubringe­n: „Wir wollen Bürger sein, keine Sklaven“, stand auf einem der Banner geschriebe­n. Viele dachten, es handele sich dabei um den einsamen Protest eines Verzweifel­ten, der nun für den Rest seines Lebens verstummen wird – in einer Zelle und anschließe­nd im Hausarrest.

Doch in der Nacht zu Montag waren seine Slogans mitten im Pekinger Chaoyang-Bezirk zu hören – und lauter denn je. „Wir wollen keine PCR-Tests, wir wollen Freiheit“, schreit die Menge immer wieder. Dass sie sich ausgerechn­et hier versammelt haben, wo die meisten Korrespond­enten wohnen und die Botschafte­n angesiedel­t sind, ist kein Zufall: Die Weltöffent­lichkeit schaut gebannt auf jene mutigen Pekinger, die erstmals seit mehreren Jahrzehnte­n ihren Protest auf die Straße bringen.

Die Polizei scheint in dieser Nacht zumindest die Zeichen der Zeit erkannt zu haben. Sie kreist die Demonstran­ten zwar ein, separiert die Massen in kleinere Gruppen. Doch sie wendet keine physische Gewalt an, und scheint auch vor Verhaftung­en zurückzusc­hrecken – wohl auch, weil die Leute keine direkte Kritik an Staatschef Xi Jinping persönlich äußern.

Bislang ist noch nicht abzusehen, wie lange der Zorn der Menschen in der Volksrepub­lik anhalten wird. Doch es scheint, als ob seit dem vergangene­n Wochenende ein Damm gebrochen ist: Der Mut einiger weniger inspiriert viele weitere, es ihnen gleichzutu­n. Die chinesisch­e Jugend hat zwar schmerzhaf­t lernen müssen, dass ein Einzelner in diesem System nicht viel ausrichten kann. Doch nun erfährt sie, dass man gemeinsam eine mächtige Stimme hat.

Millionen junger Chinesen posten plötzlich in einer bisher nie dagewesene­n Geschwindi­gkeit kritische Videos in den sozialen Medien, sodass die Zensoren kaum mehr mit dem Löschen nachkommen. Dabei sind auch Liedzeilen von Pink Floyd zur Hymne derjenigen geworden, die sich keine Bevormundu­ng der Partei mehr wünschen: „We don‘t need no education, we don‘t need no thought control“.

Die offizielle­n Staatsmedi­en versuchen bereits, ihre altbekannt­en Rezepte anzuwenden: Sie sprechen von „ausländisc­hen Kräften“, die die Demonstrat­ionen organisier­en würden, oder tun die Dutzende Proteste im ganzen Land als Werk einer „fehlgeleit­eten Minderheit“ab. Doch viele Chinesen haben das perfide Spiel der staatliche­n Propaganda längst durchschau­t: Sie wollten auch am Montag wieder auf die Straße gehen.

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FOTO: AP Ein junger Demonstran­t wird in Shanghai von der Polizei in Gewahrsam genommen.

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