Raus aus dem Strudel
Die islamistische Szene tritt zwar kaum mehr öffentlich auf, verschwunden ist sie aber nicht. 189 Personen sind derzeit in NRW als Gefährder eingestuft. Für sie gibt es Ausstiegsprogramme, die auch die Familie einbeziehen.
Wenn im Bonner Büro von Kaan Orhon das Telefon klingelt, ist manchmal eine Mutter am Apparat, die besorgt ist, weil ihr Sohn sich plötzlich einen Bart wachsen lässt, alle Bilder im Wohnzimmer abhängt und keine Musik mehr hören will. Für Orhon heißt es dann: genau hinhören und prüfen, ob es sich wirklich um das handelt, auf das sich der Islamwissenschaftler spezialisiert hat – islamistische Radikalisierung. Als Berater bei „Grüner Vogel“hilft Orhon Menschen, die aus dem Islamismus aussteigen möchten. Der Verein gehört zur Beratungsstelle Radikalisierung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und arbeitet bundesweit.
189 Personen sind in NordrheinWestfalen derzeit als Gefährder im Bereich religiöse Ideologie eingestuft. Dazu kommen 173 Personen, bei denen die Polizei davon ausgeht, dass sie islamistischen Terrorismus unterstützen. Ein Teil dieser Personen sitzt im Gefängnis, ein anderer befindet sich im Ausland. Die Lage ist weniger bedrohlich als noch 2015, als der sogenannte Islamische Staat (IS) auch in NRW viele Jugendliche rekrutierte. Doch die Gefahr von islamistischem Terrorismus ist nach wie vor präsent. „Die Szene tritt nicht mehr so stark in der Öffentlichkeit auf, aber es finden noch immer Gesprächskreise in Privaträumen statt, und es gibt WhatsappGruppen, die sich an Mädchen richten“, sagt Orhon.
80 bis 90 Prozent seiner Arbeitszeit wendet Orhon für junge Frauen auf, die sich dem IS angeschlossen hatten und nun nach Deutschland zurückgekehrt sind. Entscheidet sich jemand, aus der islamistischen Szene auszusteigen, fragt Orhon in den ersten Monaten fast täglich, wie die Lage ist. Rückkehrerinnen oder Aussteigern, die inhaftiert waren, hilft er dabei, eine Wohnung und Arbeit zu finden, oder wieder Kontakt zur Familie aufzubauen.
Auch die Berater beim Aussteigerprogramm Islamismus (API), das seit 2014 existiert und beim Verfassungsschutz angesiedelt ist, helfen ganz praktisch. Anders als das Team von Grüner Vogel, für das Freiwilligkeit im Vordergrund steht, sprechen die Mitarbeiter des API aktiv inhaftierte Islamisten an. 40 Prozent der Personen, die das API berät, säßen im Gefängnis, sagt eine Beraterin, die anonym bleiben möchte. Unter ihnen seien viele Rückkehrer.
In den Gesprächen mit ihren Klienten in NRW gehe es aber nicht nur um Praktisches, sagt sie. Es geht auch darum, warum die Person in der islamistischen Szene gelandet ist, warum sie anfing zu glauben, dass der Westen einen Krieg gegen den Islam führt und man töten darf, um seine Ideen durchzusetzen. „Die Klienten sollen verstehen, warum sie sich radikalisiert haben“, sagt die Beraterin. Das habe meistens wenig mit Religion zu tun, dafür aber viel mit Grundbedürfnissen, die nicht befriedigt wurden.
Auch Orhon beobachtet, wie die islamistische Szene dort andockt, wo bei jungen Menschen eine Lücke klafft. 89 Fälle hat der Berater betreut, seit er 2015 mit der Arbeit anfing. Bei etwa 75 Prozent seiner Klienten seien die Eltern entweder getrennt, oder ein Elternteil sei gestorben. „Man kann aber nicht einfach sagen: Scheidungskinder werden schneller radikal“, sagt Orhon. Seine Klienten hätten aber immer einen Mangel empfunden. Einige hätten sich isoliert gefühlt und nach einer Gemeinschaft gesucht, andere Gewalt erfahren und sich nach einer Gruppe gesehnt, die schütze und Stärke vermittle. „Die Ideologie bietet einen Gegenentwurf zu unserer Gesellschaft“, sagt Orhon.
Wenn Mütter bei ihm anrufen, berät Orhon nicht den Jugendlichen, der sich radikalisiert hat, sondern die Eltern, damit sie ihr Kind wieder aus dem Extremismus herausholen können. Dabei gehe es darum, die Bindung aufrechtzuerhalten und zugleich Grenzen zu setzen. Die islamistische Szene sage den Jugendlichen, Muslime und NichtMuslime könnten nicht zusammenleben. Orhon rät den Familien deshalb, ihrem Kind zu zeigen, dass sie es akzeptieren, damit es merke, dass diese Propaganda nicht stimme.
Nicht immer gelingt das. Auch hätten einige Eltern Erwartungen, die er nicht erfüllen könne, sagt Orhon. „Manche Familien kommen zu mir ins Büro und haben die Erwartung, dass sie ihr Kind nach zwei Stunden deradikalisiert wieder abholen können“, sagt Orhon. Eine Deradikalisierung dauere aber oft drei Jahre, manchmal auch fünf.
Seit seiner Gründung hat sich das API mit 230 Personen beschäftigt. 40 davon sind erfolgreich ausgestiegen, knapp 45 nehmen aktuell am Programm teil. Die anderen hätten aber nicht alle abgebrochen, sagt eine Sprecherin des Innenministeriums NRW. Die Beraterin vom API sagt aber auch, es sei normal, dass es Abbrüche gebe: „Es ist sehr anstrengend, sein Leben zu ändern. Nicht jeder kann das.“Wenn es aber gut läuft, beschließen Klient und Berater gemeinsam, das Programm zu beenden. „Deradikalisiert sind unsere Klienten, wenn sie Gewalt ablehnen, wirklich nicht mehr an die islamistische Ideologie glauben, ein relativ stabiles soziales Umfeld haben und die freiheitliche demokratische Grundordnung akzeptieren“, sagt die Beraterin des API.