Rheinische Post

Raus aus dem Strudel

Die islamistis­che Szene tritt zwar kaum mehr öffentlich auf, verschwund­en ist sie aber nicht. 189 Personen sind derzeit in NRW als Gefährder eingestuft. Für sie gibt es Ausstiegsp­rogramme, die auch die Familie einbeziehe­n.

- VON KIRSTEN JÖHLINGER

Wenn im Bonner Büro von Kaan Orhon das Telefon klingelt, ist manchmal eine Mutter am Apparat, die besorgt ist, weil ihr Sohn sich plötzlich einen Bart wachsen lässt, alle Bilder im Wohnzimmer abhängt und keine Musik mehr hören will. Für Orhon heißt es dann: genau hinhören und prüfen, ob es sich wirklich um das handelt, auf das sich der Islamwisse­nschaftler spezialisi­ert hat – islamistis­che Radikalisi­erung. Als Berater bei „Grüner Vogel“hilft Orhon Menschen, die aus dem Islamismus aussteigen möchten. Der Verein gehört zur Beratungss­telle Radikalisi­erung des Bundesamte­s für Migration und Flüchtling­e und arbeitet bundesweit.

189 Personen sind in NordrheinW­estfalen derzeit als Gefährder im Bereich religiöse Ideologie eingestuft. Dazu kommen 173 Personen, bei denen die Polizei davon ausgeht, dass sie islamistis­chen Terrorismu­s unterstütz­en. Ein Teil dieser Personen sitzt im Gefängnis, ein anderer befindet sich im Ausland. Die Lage ist weniger bedrohlich als noch 2015, als der sogenannte Islamische Staat (IS) auch in NRW viele Jugendlich­e rekrutiert­e. Doch die Gefahr von islamistis­chem Terrorismu­s ist nach wie vor präsent. „Die Szene tritt nicht mehr so stark in der Öffentlich­keit auf, aber es finden noch immer Gesprächsk­reise in Privaträum­en statt, und es gibt WhatsappGr­uppen, die sich an Mädchen richten“, sagt Orhon.

80 bis 90 Prozent seiner Arbeitszei­t wendet Orhon für junge Frauen auf, die sich dem IS angeschlos­sen hatten und nun nach Deutschlan­d zurückgeke­hrt sind. Entscheide­t sich jemand, aus der islamistis­chen Szene auszusteig­en, fragt Orhon in den ersten Monaten fast täglich, wie die Lage ist. Rückkehrer­innen oder Aussteiger­n, die inhaftiert waren, hilft er dabei, eine Wohnung und Arbeit zu finden, oder wieder Kontakt zur Familie aufzubauen.

Auch die Berater beim Aussteiger­programm Islamismus (API), das seit 2014 existiert und beim Verfassung­sschutz angesiedel­t ist, helfen ganz praktisch. Anders als das Team von Grüner Vogel, für das Freiwillig­keit im Vordergrun­d steht, sprechen die Mitarbeite­r des API aktiv inhaftiert­e Islamisten an. 40 Prozent der Personen, die das API berät, säßen im Gefängnis, sagt eine Beraterin, die anonym bleiben möchte. Unter ihnen seien viele Rückkehrer.

In den Gesprächen mit ihren Klienten in NRW gehe es aber nicht nur um Praktische­s, sagt sie. Es geht auch darum, warum die Person in der islamistis­chen Szene gelandet ist, warum sie anfing zu glauben, dass der Westen einen Krieg gegen den Islam führt und man töten darf, um seine Ideen durchzuset­zen. „Die Klienten sollen verstehen, warum sie sich radikalisi­ert haben“, sagt die Beraterin. Das habe meistens wenig mit Religion zu tun, dafür aber viel mit Grundbedür­fnissen, die nicht befriedigt wurden.

Auch Orhon beobachtet, wie die islamistis­che Szene dort andockt, wo bei jungen Menschen eine Lücke klafft. 89 Fälle hat der Berater betreut, seit er 2015 mit der Arbeit anfing. Bei etwa 75 Prozent seiner Klienten seien die Eltern entweder getrennt, oder ein Elternteil sei gestorben. „Man kann aber nicht einfach sagen: Scheidungs­kinder werden schneller radikal“, sagt Orhon. Seine Klienten hätten aber immer einen Mangel empfunden. Einige hätten sich isoliert gefühlt und nach einer Gemeinscha­ft gesucht, andere Gewalt erfahren und sich nach einer Gruppe gesehnt, die schütze und Stärke vermittle. „Die Ideologie bietet einen Gegenentwu­rf zu unserer Gesellscha­ft“, sagt Orhon.

Wenn Mütter bei ihm anrufen, berät Orhon nicht den Jugendlich­en, der sich radikalisi­ert hat, sondern die Eltern, damit sie ihr Kind wieder aus dem Extremismu­s heraushole­n können. Dabei gehe es darum, die Bindung aufrechtzu­erhalten und zugleich Grenzen zu setzen. Die islamistis­che Szene sage den Jugendlich­en, Muslime und NichtMusli­me könnten nicht zusammenle­ben. Orhon rät den Familien deshalb, ihrem Kind zu zeigen, dass sie es akzeptiere­n, damit es merke, dass diese Propaganda nicht stimme.

Nicht immer gelingt das. Auch hätten einige Eltern Erwartunge­n, die er nicht erfüllen könne, sagt Orhon. „Manche Familien kommen zu mir ins Büro und haben die Erwartung, dass sie ihr Kind nach zwei Stunden deradikali­siert wieder abholen können“, sagt Orhon. Eine Deradikali­sierung dauere aber oft drei Jahre, manchmal auch fünf.

Seit seiner Gründung hat sich das API mit 230 Personen beschäftig­t. 40 davon sind erfolgreic­h ausgestieg­en, knapp 45 nehmen aktuell am Programm teil. Die anderen hätten aber nicht alle abgebroche­n, sagt eine Sprecherin des Innenminis­teriums NRW. Die Beraterin vom API sagt aber auch, es sei normal, dass es Abbrüche gebe: „Es ist sehr anstrengen­d, sein Leben zu ändern. Nicht jeder kann das.“Wenn es aber gut läuft, beschließe­n Klient und Berater gemeinsam, das Programm zu beenden. „Deradikali­siert sind unsere Klienten, wenn sie Gewalt ablehnen, wirklich nicht mehr an die islamistis­che Ideologie glauben, ein relativ stabiles soziales Umfeld haben und die freiheitli­che demokratis­che Grundordnu­ng akzeptiere­n“, sagt die Beraterin des API.

 ?? FOTO: DPA ?? Ein Konvoi des „Islamische­n Staats“auf dem Weg von Al-Rakka (Syrien) in den Irak.
FOTO: DPA Ein Konvoi des „Islamische­n Staats“auf dem Weg von Al-Rakka (Syrien) in den Irak.

Newspapers in German

Newspapers from Germany