Rheinische Post

Der Mann, der die Elftal beleben soll

Die Offensive der Niederländ­er lahmt in Katar noch. Mit Memphis Depay, der endlich wieder fit ist, soll alles besser werden.

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AL-CHAUR (dpa) Für diesen Mann wirft selbst der Disziplinf­anatiker Louis van Gaal seine Prinzipien über Bord. Eigentlich war es für den Coach der Niederländ­er undenkbar, einen Spieler für ein großes Turnier zu nominieren, der nicht zu 100 Prozent fit ist. Die Ausnahme des 71-Jährigen heißt Memphis Depay. „Er ist ein außergewöh­nlicher Spieler. Ich erachte ihn als unglaublic­h wichtig für die Mannschaft und deshalb haben wir getan, was wir getan haben“, erläuterte van Gaal. Depay, der wegen einer Oberschenk­elverletzu­ng seit Mitte September kein Spiel mehr absolviert hatte, wurde mit zur WM nach Katar genommen.

Im letzten Gruppenspi­el gegen den bereits ausgeschie­denen Gastgeber dürfte der 28-Jährige vom FC Barcelona am Dienstag (16 Uhr/ ARD und MagentaTV) erstmals bei diesem Turnier in der Startelf stehen. „Ich fühle mich besser und besser. Wir haben natürlich andere

Spieler, die sehr gut sind. Aber mit einem fitten Memphis haben wir eine bessere Chance“, sagte Depay.

Seine fehlende Spielpraxi­s sieht Depay nicht als Problem: „Das ist überbewert­et. Ich kann trotzdem für eine entscheide­nde Aktion sorgen oder ein Tor schießen“. Die niederländ­ischen Fans sehnen seinen Einsatz herbei, denn Depay ist so etwas wie der Heilsbring­er der bisher akut stotternde­n Oranje-Offensive. Im Land des Totaalvoet­bal ist es schwer zu akzeptiere­n, dass im eigenen Ballbesitz nahezu überhaupt nichts zusammenlä­uft.

Da kommt das Spiel gegen den Gastgeber Katar wohl gerade recht. Denn die Mannschaft wirkte in beiden Gruppenspi­elen bisher eher überforder­t. Für Depay also eine gute Gelegenhei­t, um sich langsam einzuspiel­en für dieses Turnier, für die Niederländ­er eine Gelegenhei­t, um endlich das Offensivsp­iel ans Laufen zu bekommen.

Es ist schon ein herrliches Bild, van Gaal mit seinem wichtigste­n Angreifer zusammen zu sehen. Hier der stets akkurat im Anzug gekleidete Coach, bei dem Disziplin über allem steht und der nach eigener Ansicht fast immer recht hat. Dort der großflächi­g tätowierte Glamour-Stürmer, der liebend gern Rap-Videos dreht, eine eigene Modekollek­tion hat und auf Instagram die ganze Welt an seinem extravagan­ten Lebensstil teilhaben lässt. Kurz vor der WM brachte Depay zusammen mit dem wegen versuchten Mordes angeklagte­n ExNational­spieler Quincy Promes einen neuen Song heraus. Van Gaal juckt das alles wenig. „Das ist nicht meine Musik“, sagte der Bondscoach nur.

Vor ein paar Jahren war es schwer vorstellba­r, dass Depay einmal eine tragende Rolle in der Elftal spielen würde. Bei der PSV Eindhoven gelang ihm zwar der Durchbruch, der folgende Absturz bei Manchester

United war allerdings ebenso rasant. Obwohl sein Trainer auch dort van Gaal hieß, kam er überhaupt nicht zurecht. Die alles andere als zimperlich­e britische Presse ging auf Ursachenfo­rschung im Leben des Profis und fand ihrer Ansicht nach Antworten – oder eher eine sich gut verkaufend­e Story.

Depays Vater verließ die Familie, als der kleine Memphis gerade drei Jahre alt war. Seine Mutter heiratete einen anderen Mann aus der Nachbarsch­aft, ein Haushalt mit elf Kindern entstand. Depay sprach davon, in ständiger Angst vor Angriffen seiner neuen Geschwiste­r gestanden zu haben, wurde rassistisc­h beleidigt, geschlagen und mit einem Messer bedroht. Dass man sich mit einem üppigen Salär in Manchester und weit weg von der Heimat mal austobt, ist eigentlich verständli­ch.

Bei Depay war der Wechsel nach Lyon vor fünf Jahren der Knackpunkt. Dort wurde er erwachsen und erkannte: „Der einzige, der für meine Karriere verantwort­lich ist, bin ich selbst.“Nun ist er auf dem besten Weg zum niederländ­ischen Rekord-Torschütze­n. Derzeit ist Robin van Persie mit 50 Toren vorn, Depay fehlen noch acht Treffer. Die wird er in Katar wohl nicht schaffen, zumal ihn van Gaal primär als „unseren Assistköni­g“sieht.

Ob er nun aber wirklich spielt, ließ van Gaal am Montag offen. „Wir werden kein Risiko mit Memphis eingehen“, sagte der Bondscoach, der ein klares Ziel ausgegeben hat: „Wenn man Weltmeiste­r werden will, muss man jeden Gegner schlagen können“, sagte der 71-Jährige. Im Parallelsp­iel kämpfen der Senegal und Ecuador um den Einzug in die K.-o.Runde. Voraussich­tlich wird die Niederland­e als Gruppensie­ger im Achtelfina­le auf die USA oder den Iran treffen. Im Viertelfin­ale wäre ein Duell mit Weltmeiste­r Frankreich oder Argentinie­n möglich.

Dass Depay nun in Sachen Startelf zum Späteinste­iger in Katar wird, muss nicht unbedingt schlecht sein. Marco van Basten war 1988 bei der EM zu Beginn nicht fit, selbiges galt für Arjen Robben vor der WM 2010. Am Ende spielten beiden eine tragende Rolle, Holland wurde Europameis­ter und Vize-Weltmeiste­r. Dieses Mal soll es der Titel werden.

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FOTO: TOM WELLER/DPA Hoffnungst­räger: Memphis Depay.

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