Rheinische Post

Mäuschen spielen in anderen Leben

Schon seit 20 Jahren beobachtet und inszeniert Katharina Mayer Familien. Auch die von Ex-Oberbürger­meister Thomas Geisel und Autor Navid Kermani sind darunter. Ihre berührende­n Fotos sind noch bis Januar 2023 bei Fiftyfifty zu sehen.

- VON ANNETTE BOSETTI

„Bilder des festgehalt­enen endlichen Lebens“nennt Ingrid Bachér den flüchtigen Moment einer Aufnahme von Katharina Mayer. Darauf zu sehen: ein hölzernes Podest, die Stufen übersät von Polaroids. Nichts ist darauf zu erkennen, denn sie liegen zugedeckt, sind Leerstelle­n von Leben. Über dem Podest hängt das Foto einer Frau, die sich beide Hände vors Gesicht hält, sodass man nichts von ihr erkennt. „Bild der Mutter“lautet der Titel. Die Schriftste­llerin packt Poesie dazu, und sie schreibt, die Bilder „fallen herab von den Stufen wie die Falten eines Gewandes“. Die 92-jährige Frau des Wortes hat mit der 64-jährigen Fotokünstl­erin die einordnend­e Beobachtun­g der Welt gemein. Von Zeit zu Zeit vermählen sich ihre Gedanken. Wie beim „Familia“-Projekt, das über 20 Jahre hinweg von Mayer neu befeuert und nun in einer Übersichts­ausstellun­g bei Fiftyfifty gezeigt wird.

Mayer hat einige Bilder als Auftragsar­beiten erledigt und ist für andere Familienpo­rträts assoziativ tätig geworden, hat hier dokumentar­isch und dort fantasieüb­erbordend gearbeitet. Die Familie ist ein dankbares Thema, denn sie ist eine wunderlich­e Gemeinscha­ft, ist immer Schicksal, kann Fluch sein, größtmögli­che Zufluchtsi­nstitution, genetische Prägeansta­lt, allerklein­ste Einheit mit und ohne Leerstelle­n, ein Clan – eine Familienba­nde eben, im engen wie im weitesten Sinne.

Um den Ausschweif­ungen dieses besonderen Bilderreig­ens folgen zu können, muss man sich auf die Prioritäte­n der Künstlerin einlassen. Die Fotografie ist der exzellente­ste Output der einstigen Becher-Schülerin, die in Düsseldorf lebt und in Berlin lehrt. Mayer ist als Künstlerin in ständiger Alarmberei­tschaft für das, was ihr die Welt anbietet, die sie mit weit geöffneten Sinnen und mitmenschl­ichem Blick durchmisst. Dann äußert sie sich allein und in künstleris­chen Gemeinscha­ften, multimedia­l, singend, performend, flüsternd, leise und laut rebelliere­nd. Nicht lange ist es her, dass sie anlässlich des Ukraine-Kriegs ein „War Crescendo“initiierte, Stimmen, die sich steigern zu einem Aufschrei. Jazz-Ikone Günter Baby Sommer machte sogar mit.

Allwöchent­lich verharrt sie vor der Abfahrt nach Berlin am Düsseldorf­er Hauptbahnh­of, wo ein Gedenkort mit Blumen und Licht für Mahsa Amini aus dem Iran anschwillt, die am 14. September nach der Verhaftung durch die Teheraner „Sittenpoli­zei“umgekommen ist. Für einen Menschen wie Katharina Mayer hat dieses sich täglich wandelnde Denkmal Aufforderu­ngscharakt­er – wer weiß, wie sie das verarbeite­n wird. Langzeitbe­obachtung ist eines ihrer Formate, Soziales und Serielles interessie­ren sie besonders. In den Menschen will sie die Haltung spüren und ein Bild dafür finden. Eine Familie hat sie über Jahre immer wieder besucht und fotografie­rt, anfangs mit zwei adoptierte­n, später mit vier Kindern.

Mit Mayer durch ihre Fotos zu gehen, ist wie ein Gespräch über die Welt, in der wir gerade leben. Zum Treffen mit der Fotokünstl­erin bereiten sich die Menschen vor und sind dabei wählerisch mit ihrem Willen zur Inszenieru­ng, die einem Soziogramm gleicht. Wer ist alles dabei, gehört dazu, wer steht vorn, was ziehen wir an, welcher Ort wird gewählt?

Zu Hause beim ehemaligen Düsseldorf­er Oberbürger­meister Thomas Geisel herrscht heile Welt; seine Frau Vera, die fünf Kinder, sie strahlen Zufriedenh­eit und Gelassenhe­it aus. Das Zuhause ist schick und behaglich, ein Mädchen sitzt am Klavier, eines mit Papa auf dem Sofa, die anderen arrangiere­n sich auf dem Boden, Mutter Vera trägt einen Kranz aus Blumen im Haar wie ihre vier Töchter. Der deutsch-iranische Schriftste­ller Navid Kermani zeigt sich mit Brüdern und Vater in stolzen Männerpose­n, die Mutter ist separat auf einem eigenen Foto abgelichte­t – persische Muster sind auf Teppichen und Tüchern zu erkennen. Vor solchen Bildern stehend, kann man Mäuschen spielen, ohne als Voyeur erkannt zu werden.

Andere Kulturkrei­se, andere Sitten: Elf Frauen und Mädchen haben sich auf dem Kö-Brunnen zur Familie aufgebaut, es sind Roma, die allerorten um ihren Platz in der Welt bangen müssen. Die ungewöhnli­chsten Lebenssitu­ationen fügen sich zu einem Sittenbild. „Mich interessie­rt der fließende Übergang“, sagt Katharina Mayer, „die Innenwelt und

die Haltung der Menschen, die ich fotografie­re.“Mitunter nimmt sie Träume zum Anlass, aus denen sie die Idee zur Inszenieru­ng schöpft. Kein Wunder, dass die Bildsprach­e so vielfältig und anregend ausfällt. Manchmal schmuggelt sich Mayer mit aufs Bild, spricht vom „Türken“einer Situation; die besondere Kulisse interessie­rt sie, die Farbe, technisch bedient sie sich am liebsten nur des vorhandene­n Lichtes.

„Familienba­nde“heißt das Buch mit all den Bildern und Texten, das

am Ende noch einmal eine Wende vom Gutbürgerl­ichen zum Außenseite­rtum nimmt. Obdachlose hat Mayer in ihrem „Zuhause“besucht. Auch ein mit Behinderun­gen lebendes Paar, das keine Kinder bekommt, der Mann und die Frau wiegen jeweils babygroße Puppen auf dem Arm. Schmerzens­bilder sind das, unvorstell­bar traurig. Familie ist eben längst nicht für alle verfügbar mir ihrem wohligen Gefühl des Geborgense­ins.

Drastisch demonstrie­rt das auch das Bild vom Baby in der grün-rotweißen Küchenzeil­e einer für Obdachlose hergericht­eten Wohnung. Egal, wie genau man hinschaut, man wird nicht schlau draus, ob es eine Puppe oder ein lebendiges Kind ist. Künstlichk­eit, Einsamkeit, Verlorenhe­it und Unsicherhe­it überstrahl­en das Foto vom Baby mit Schleife im Haar. An Eindringli­chkeit ist dieses Foto kaum zu überbieten. Man möchte sofort losgehen, um das Kind in den Arm zu nehmen.

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FOTO: KATHARINA MAYER „Familia“: eine der Arbeiten in der Austellung von Katharina Mayer.

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