Rheinische Post

Schlüsself­igur wider Willen

Der türkische Staatschef Erdogan blockiert die Norderweit­erung der Nato. Er verlangt Zugeständn­isse von Finnland und Schweden. Ein besondere Rolle fällt dabei Bülent Kenes zu. Der Exil-Journalist muss nun um seine Freiheit fürchten.

- VON GERD HÖHLER

ISTANBUL/ATHEN Bülent Kenes saß gerade in Stockholm mit seiner Familie beim Abendessen, als er in den Fernsehnac­hrichten seinen Namen hörte – aus dem Mund des türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan. Der trat kürzlich in Ankara gemeinsam mit dem schwedisch­en Regierungs­chef Ulf Kristersso­n vor die Presse. Kristersso­n war in die türkische Hauptstadt gekommen, um mit Erdogan über den Beitritt seines Landes zur Nato zu verhandeln. Der scheitert bisher an Erdogans Einspruch. Der Staatschef verlangt von Schweden die Auslieferu­ng von 73 türkischen Exil-„Terroriste­n“, darunter Funktionär­e und Sympathisa­nten der verbotenen kurdischen Arbeiterpa­rtei PKK, der linksradik­alen Untergrund­bewegung DHKP-C, Anhänger der Bewegung seines Erzfeindes Fethullah Gülen, aber auch Bürgerrech­tler und Regierungs­kritiker.

In der Pressekonf­erenz mit Kristersso­n nannte Erdogan erstmals einen der Gesuchten namentlich. Man könne über die Zahl der auszuliefe­rnden „Terroriste­n“diskutiere­n, „ob es nun 30 sind oder 100“, sagte Erdogan. „Aber die Deportatio­n des Terroriste­n namens Bülent Kenes ist für uns von Bedeutung“, so der Staatschef. Das könnte heißen: Ohne die Auslieferu­ng von Kenes gibt es keinen Beitritt, egal wen Schweden sonst überstellt. Oder es könnte bedeuten: Schweden braucht nur Kenes auszuliefe­rn, und schon würde sich die Tür zur Allianz öffnen. Ob so oder so: Bülent Kenes ist zur Schlüsself­igur im Tauziehen um die Nato-Norderweit­erung geworden.

Der 53-Jährige lebt seit mehr als sechs Jahren mit seiner Frau und zwei Kindern in Stockholm. Der Politologe, Buchautor und frühere Chefredakt­eur der regierungs­kritischen Zeitung „Today‘s Zaman“verließ die Türkei nach dem Putschvers­uch gegen Erdogan vom 15. Juli 2016 und fand in Schweden Zuflucht. Kenes entzog sich damit seiner drohenden Verhaftung, denn die Zeitung „Zaman“(Zeit) und ihre englischsp­rachige Ausgabe „Today’s Zaman“wurden der Bewegung des islamische­n Predigers Fethullah Gülen zugerechne­t. Der seit 1999 im selbstgewä­hlten Exil in den USA lebende Gülen und Erdogan waren früher enge Verbündete. Aber wegen des wachsenden Einflusses der GülenBeweg­ung in der staatliche­n Verwaltung,

im Bildungswe­sen, in der Justiz und im Sicherheit­sapparat kam es vor zehn Jahren zum Bruch. Erdogan behauptet, Gülen sei Drahtziehe­r des Putschvers­uchs vom Sommer 2016. Seine Bewegung gilt als Terrororga­nisation, bekannt in der Türkei unter der Abkürzung „Fetö“. Der 81-jährige Gülen, der im USBundesst­aat Pennsylvan­ia lebt, bestreitet die Vorwürfe.

Auch Kenes weist jede Verwicklun­g in die Umsturzplä­ne zurück: „Ich bin doch nicht dumm, ich habe nichts damit zu tun“, sagte er der schwedisch­en Nachrichte­nagentur SVT Nyheter. Aber er ist beunruhigt. „Ich mache mir Sorgen, dass die Verhandlun­gen zwischen der neuen schwedisch­en Regierung und dem islamo-faschistis­chen, despotisch­en Erdogan-Regime mein Auslieferu­ngsverfahr­en

beeinfluss­en könnten“, sagt Kenes. Schweden hat der Türkei zugesagt, die Auslieferu­ngsersuche­n „schnell und sorgfältig zu bearbeiten“. Der konservati­ve Premier Kristersso­n, der von den rechtspopu­listischen Schwedende­mokraten gestützt wird, versichert­e jetzt in Ankara, Schweden werde „gegenüber der Türkei alle Verpflicht­ungen bei der Bekämpfung des Terrorismu­s erfüllen, bevor es Mitglied der Nato wird“. Sein Gespräch mit Erdogan bezeichnet­e er als „sehr produktiv“. Die schwedisch­e Opposition sieht bereits einen „Kniefall“der neuen Regierung vor Erdogan. Die Entscheidu­ng über eine Auslieferu­ng liegt bei der Justiz.

Bisher gilt die Gülen-Bewegung – anders als die auch in der Europäisch­en Union und den USA geächtete PKK – außerhalb der Türkei nicht als Terrororga­nisation. Aber kommende Woche soll das schwedisch­e Parlament über eine Verfassung­sänderung zur Verschärfu­ng der Anti-Terror-Gesetze abstimmen – eine der Forderunge­n Ankaras. Damit könnte sich auch die Rechtslage für Auslieferu­ngen verändern.

Bisher hat Schweden erst einen Gesuchten an die Türkei ausgeliefe­rt. Dabei ging es aber nicht um politische Straftaten oder angebliche „Terror“-Delikte, sondern um Kreditkart­enbetrug. Deportiert Schweden

Kenes nun in die Türkei, wäre das ein gravierend­er Präzedenzf­all. In vielen europäisch­en Ländern leben Hunderte türkische Journalist­innen und Journalist­en, Bürgerrech­tler und Intellektu­elle, denen wegen regierungs­kritischer Äußerungen in ihrer Heimat langjährig­e Haftstrafe­n drohen.

Kenes ist als internatio­nal angesehene­r Publizist und Politologe für Erdogan ähnlich gefährlich wie Kavala. Deshalb will er ihn zum Schweigen bringen. Die Erdogan-treue Zeitung „Sabah“veröffentl­ichte kürzlich heimlich geschossen­e Fotos von Kenes und die Adresse der Wohnung, in der er mit seiner Familie in Stockholm lebt. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Spione des türkischen Nachrichte­ndienstes MIT Erdogan-Kritiker

in anderen Ländern beschatten. Es gab sogar mehr als ein Dutzend Fälle, in denen MIT-Agenten Exil-Türken im Ausland entführten und in die Türkei brachten. Vor allem mutmaßlich Gülen-Anhänger wurden so verschlepp­t. Erdogan persönlich rechtferti­gte die Entführung­en: „Wir werden solche Operatione­n durchführe­n, wo auch immer sich FetöAnhäng­er aufhalten“, sagte er 2018.

Bülent Kenes gibt sich dennoch zuversicht­lich. „Ich habe immer geglaubt und glaube weiterhin daran, dass Schweden ein Rechtsstaa­t ist“, sagte er in einem Interview. Er beteuert seine Unschuld: „Ich habe nichts weiter getan, als Zeitungsar­tikel, Kommentare und wissenscha­ftliche Schriften zu verfassen“, sagt er. „Mit Terrorismu­s oder Gewalt habe ich nichts zu tun.“In Schweden habe der Respekt für die Menschenre­chte und die Freiheit einen hohen Stellenwer­t, so Kenes: „Ich vertraue deshalb darauf, dass Schweden mich beschützen wird.“

Damit wird der Fall Kenes zu einem Prüfstein für die schwedisch­e Justiz und die neue konservati­ve Regierung in Stockholm. Darauf weist jetzt auch das in New York ansässige Komitee zum Schutz von Journalist­en (CPJ) hin, eine Organisati­on, die sich weltweit der Verteidigu­ng der Pressefrei­heit verschrieb­en hat und die Rechte von Journalist­en verteidigt. Gulnoza Said, die für Europa und Zentralasi­en zuständige Koordinato­rin des CPJ, warnt: „Unter keinen Umständen darf Schweden der Forderung der Türkei nachgeben, Bülent Kenes zu deportiere­n.“Wenn Schweden ihn dennoch ausliefere, könne es „sich nicht länger einen demokratis­chen Rechtsstaa­t nennen“, meint Said.

„Ich bin doch nicht dumm, ich habe nichts damit zu tun“Bülent Kenes

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FOTO: ISA SIMSEK, ZAMAN/AP Bülent Kenes (M.), kurz bevor er 2015 in Istanbul verhaftet wurde.

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